Ein endloses Meer der Freiheit

Zeit seines Lebens widmet sich der französische Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio dem kolonialen Erbe, das seine mauritischen Ahnen hinterließen, und kämpft für die Rehabilitierung von einst kolonialisierten Kulturen

Als man dem Studenten Jean-Marie Gustave Le Clézio 1963 für seinen Erstlingsroman „Le Procès-verbal“ (deutsch: „Das Protokoll“) den hoch dotierten Prix Renaudot übergab, attestierten die Kritiker dem „scheuen Schönling“ aus der Provinz große schriftstellerische Begabung. Gleichzeitig aber waren sie irritiert davon, wie „unerhört unklassifizierbar“ dieser Text war.

In Frankreich und in der frankofonen Welt hat Le Clézio dennoch seine Leserschaft gefunden. Selbst in entlegenen Provinznestern steht im Kiosk ein Le Clézio im Regal. Die Verkaufszahlen sprechen bei jeder Neuerscheinung für sich. Nach wie vor aber reagieren Pariser Kritiker zurückhaltend bis ablehnend, auch auf den Nobelpreis. Warum sollte einem „Schriftsteller der Fremde“ eine solche Ehre zuteilwerden? Der über Indios, Tuareg, Nigerianer, Inder, der über Immigranten, nur nicht über die bürgerliche Gesellschaft schreibe? Warum einen Autor auszeichnen, der die frankofonen Länder, nicht aber die Grande Nation zu seiner Sache mache? Nein, dieser Le Clézio habe solchen Ruhm nicht verdient.

Es ist wahr, die Schwedische Akademie hat einen Außenseiter ausgezeichnet. Und das zur richtigen Zeit. Le Clézios Werk liest sich rückblickend als eine kulturpolitische Vision. Kritik am Konsumverhalten und Profitdenken der westlichen Welt sind heute in der Finanz- und Wirtschaftskrise brisanter als 1963 in Zeiten des Wirtschaftswunders. Das nachdrückliche Beharren darauf, kolonisierte Völker in ihrer Würde und ihrem Recht zu rehabilitieren, ihre politische und kulturelle Autonomie zu fördern, ist auch nach der Unabhängigkeit vieler Staaten ein Desiderat. Und die Kritik an den Industrienationen, die ihren Wohlstand über Jahrhunderte auf Kosten der Kolonien finanzierten und finanzieren, ist aktueller denn je. Nach wie vor ist Profitgier Ursache von politischen Krisen und Kriegen.

Diese menschliche wie ökologische Katastrophe klagt der Autor in zunehmend deutlichen Tönen an. Le Clézio versteht sich dabei als der Ethnograf unter den Literaten, der mit Unbehagen auf die eigene, europäische Kultur schaut: auf den Ethnozentrismus, das hierarchische Denken und den Vormachtsanspruch der technisierten Gesellschaften. Le Clézios Texte plädieren unermüdlich für ein humaneres Bewusstsein. Für diesen „Idealismus“ wurde dem Autor im Oktober 2008 der Nobelpreis für Literatur verliehen. Dass Le Clézio die Zeichen der Zeit richtig deutet, zeigte sich nur vier Wochen später: in dem historischen Ereignis, dass Barack Obama als erster Afroamerikaner zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde.

Von jeher spiegelt sich Le Clézios Schreiben im Spiegel des Meeres wider. Er ist ein „Verfasser des Aufbruchs“, der schon als Kind davon träumte, einmal Matrose zu werden, ein Schriftsteller, der ohne Häfen und Schifffahrt, ohne Inseln und Robinson Crusoe gar nicht zu denken wäre. Die Stationen seiner Seereisen dokumentieren die immer durchdringendere Sicht auf die Verhältnisse in peripheren, sensiblen und kleinen Gesellschaften.

Langweilig sei das Leben in der sonnigen und verschlafenen Provinzstadt gewesen, so Le Clézio, und doch kehrt er immer wieder an den Ort seiner Kindheit und Jugend zurück. Vom Fenster, vor dem sein Schreibtisch steht, blickt man auf den alten Hafen. Aber die mediterrane Idylle trügt. Hier schreibt er seine ersten Texte in einer Mischung aus zerstörerischer Wut und resigniertem Überdruss. In Romanen und Erzählungen wie „Das Protokoll“, „Das Fieber“ (1965), „Die Sintflut“ (1966) und „Der Krieg“ (1970) fühlt der Autor den Puls seiner Generation, er erschafft Figuren, die in Städten umherirren und alles daransetzen, ihre bürgerliche Existenz abzustreifen.

Wie Adam Pollo aus dem Erstling „Das Protokoll“. Er lebt seine philosophische Revolte fern der existenzialistischen Debattierclubs in Paris aus, zieht sich in ein verlassenes Haus am Meer zurück und verweigert menschliche Kontakte. Der Welt möchte er sich nur durch sinnliche Erfahrung, nicht durch angelesenes Wissen nähern. Am Strand nimmt er die Verfolgung eines Hundes auf: „Ein Hund lief im Wasser entlang, und Adam folgte ihm; er marschierte absichtlich bis zu den Knien im Wasser, um es dem Hund gleichzutun. … So zogen sie beide dahin, hintereinander, bis zum Strandende.“ In einer anderen Szene stehen Gaffer um eine aus dem Meer geborgene Leiche und kommentieren das Unglück: „,Haben Sie gesehen, wie aufgebläht er war? Er muss ganz schön lang im Wasser gewesen sein.‘ … ,Glauben Sie, dass er tot ist?‘ … Sie hatten sich jetzt von den letzten Resten der schmutzigen Pfütze abgewandt und schauten aufs Meer hinaus. Der Horizont war verschwommen, von Nebel und Grau verhangen. … Der Regen rann ihnen übers Kinn und verklebte ihre Haare; wenn sie gewusst hätten oder gesehen, wie sie immer mehr Ertrunkenen glichen.“

Im Spiegel des Wassers zeigt sich eine überreizte Zivilisation. Für den jungen Autor hingegen ist Nizzas Strand ein Fluchtpunkt, ein kreativer Ort. „Was ich im Grunde genommen suchte, wenn ich am Strand schrieb, war der Kontakt zur wirklichen Welt. … Am Strand schreiben, vom Strand und dem Meer erzählen … Man kann dort das Gefühl haben, der städtischen Welt wirklich zu entfliehen.“ Dem Gefangenen der „weißen Stadt“ eröffnet der Blick auf den Horizont eine Ahnung von möglichen Ausbrüchen.


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mare No. 79

No. 79April / Mai 2010

Von Laetitia Rimpau

Laetitia Rimpau war bis 2009 Assistentin am romanistischen Institut der Universität Frankfurt am Main. 2002 erschien ihre Dissertation Reisen zum Ursprung. Das Mauritius-Projekt von Jean-Marie Gustave Le Clézio beim Niemeyer Verlag.

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Vita Laetitia Rimpau war bis 2009 Assistentin am romanistischen Institut der Universität Frankfurt am Main. 2002 erschien ihre Dissertation Reisen zum Ursprung. Das Mauritius-Projekt von Jean-Marie Gustave Le Clézio beim Niemeyer Verlag.
Person Von Laetitia Rimpau
Vita Laetitia Rimpau war bis 2009 Assistentin am romanistischen Institut der Universität Frankfurt am Main. 2002 erschien ihre Dissertation Reisen zum Ursprung. Das Mauritius-Projekt von Jean-Marie Gustave Le Clézio beim Niemeyer Verlag.
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