Ein amerikanischer Traum

An der Küste Floridas führen junge Frauen das Märchen von der Meerjungfrau auf – unter Wasser

Der junge Matrose schwimmt um seine blonde Geliebte herum, wirbt um sie, ist fasziniert von der grün schillernden Schönheit und streicht ihr versonnen über die Schwanzflosse.

„Willst du mit mir kommen und in meinem Apartment leben?“, fragt er sie zärtlich. „Für immer ?“ Bloß nicht, tu’ es bloß nicht, kleine Seejungfrau, denkt man sich. Aber natürlich wird sie es tun, die Unterwasserwelt verlassen, um mit ihm, dem Seemann, dem häufig abwesenden, in seinem Apartment zu wohnen. In einem kleinen, klammen Zimmer in irgendeiner Hafenstadt wahrscheinlich.

Grauenvolle Vorstellung; aber die Kinder sind entzückt, die alten Herren beglückt. Die Liebe ist halt doch stärker. Dabei hätte sie es so schön haben können in ihrer Welt, wo Schildkröten vorbeischwimmen und ihr zarter Gesang die Bewohner der Meerestiefen betört.

Hans Christian Andersen schrieb einst ein Märchen, das Märchen von der Kleinen Meerjungfrau. In Florida kennt es jedes Kind, und jedes Kind weiß genau, wie sie denn ausgesehen hat, die kleine Meerjungfrau. Denn jedes Kind war in Weeki Wachee, dem Unterwassertheater für Seejungfrauen an der Westküste nördlich von Tampa.

Das Theater liegt ein paar Meter unter der Wasseroberfläche, sechs Holzbankreihen steigen in einem niedrigen Raum leicht an. Es riecht nach Popcorn. Kinder zappeln auf den Bänken, Mütter versuchen Ordnung zu schaffen, vereinzelt sitzen ältere Herren im Publikum, einer nestelt nervös an seiner Videokamera herum. Der Blick auf die submarine Welt ist noch nicht freigegeben, ein Vorhang verdeckt eine geschwungene, 20 Meter lange, zwei Meter hohe Glaswand.

Hinter einer versteckten Tür liegt die Umkleidegarderobe. Der Raum ist stark geheizt und schwül, feuchter Dampf klebt an den Spiegeln. Es sieht aus wie in jedem Theater: Tischreihen mit Lämpchen über den Spiegeln, darauf stehen Schminktöpfe, an den Metallgarderoben stecken Plas tikblumen und Fotos von Säuglingen in Strampelanzügen, Kleider hängen an Bügeln und Haken, hochhackige Schuhe liegen am Boden.

Nicole trägt durchsichtige Strumpfhosen unter ihrem Badeanzug. Die 24-Jährige geht zur Treppe und nimmt ein Paar Flossen und eine Taucherbrille von der Wand. Unten sitzen Jenny, Kimberley und der Matrose Paul um ein tiefes Loch im Betonboden herum. Jenny quetscht sich in ihr Kostüm, in dessen Schwanz sie die Schwimmflossen schon hineingestopft hat. Sie liegt am Boden und zieht den Reißverschluss hoch.

Da sitzen sie nun, die Meerjungfrauen, und baumeln mit den prachtvollen, grünen Schwänzen. Aus einem Lautsprecher kommt die Ansage: noch zwei Minuten. Die Frauen schwatzen, putzen die Brillen noch einmal. Nicole springt als Erste durch das runde Loch in die Tiefe, Kimberley und Jenny folgen ihr.

Der Vorhang hat sich gehoben, Luftblasen steigen an der Glaswand hoch, die Kinder schweigen, eine verzauberte Welt tut sich auf. Das „Bühnenbild“ ist echt, natur: eine Unterwasserwelt aus Felsformationen, Steinen, Tälern, kantigen Vorsprüngen, darauf Algen, und irgendwo einzelne Fischschwärme. Nur wenige künstliche Elemente sind hinzugefügt: ein Schloss, eine griechische Büste, eine große Muschel.

Musik dröhnt aus den Lautsprechern, drei Meerjungfrauen schwimmen ins Bühnenbild. Sie bewegen sich elegant, drehen sich um die eigene Achse, gleiten aneinander vorbei, die Augen weit geöffnet. Sie singen: „Wir sind nicht wie andere Frauen.“ Nicole taucht zum Boden und nimmt einen Schluck Luft aus einem Gummischlauch, der sich über den Fels schlängelt. Dann lässt sie ihn wieder hinuntersinken. Der Gummischlauch ist der eigentliche Grund, warum dieses Theater hier zwei Mal täglich aufgeführt wird.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 20. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 20

No. 20Juni / Juli 2000

Von Zora del Buono und Stefan Pielow

Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist mare-Kulturredakteurin. In No.15 porträtierte sie die britische Fotografin Anna Atkins.

Stefan Pielow, Jahrgang 1959, ist freier Fotograf in Hamburg. Im mare-Heft 15 erschienen seine Bilder der Berliner Salzwasser-Aquarianer. Auf das Unterwassertheater wurden die beiden durch große Plastik-Meerjungfrauen aus Marmor-Imitat aufmerksam, die entlang des Highways das Ballett auf Meilen voraus ankündigen.

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Vita Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist mare-Kulturredakteurin. In No.15 porträtierte sie die britische Fotografin Anna Atkins.

Stefan Pielow, Jahrgang 1959, ist freier Fotograf in Hamburg. Im mare-Heft 15 erschienen seine Bilder der Berliner Salzwasser-Aquarianer. Auf das Unterwassertheater wurden die beiden durch große Plastik-Meerjungfrauen aus Marmor-Imitat aufmerksam, die entlang des Highways das Ballett auf Meilen voraus ankündigen.
Person Von Zora del Buono und Stefan Pielow
Vita Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist mare-Kulturredakteurin. In No.15 porträtierte sie die britische Fotografin Anna Atkins.

Stefan Pielow, Jahrgang 1959, ist freier Fotograf in Hamburg. Im mare-Heft 15 erschienen seine Bilder der Berliner Salzwasser-Aquarianer. Auf das Unterwassertheater wurden die beiden durch große Plastik-Meerjungfrauen aus Marmor-Imitat aufmerksam, die entlang des Highways das Ballett auf Meilen voraus ankündigen.
Person Von Zora del Buono und Stefan Pielow