Ein Abenteuer namens Wilhelmshaven

1881 unternahm der französische Science-Fiction-Schriftsteller Jules Verne eine Seereise nach Wilhelmshaven. Die Fahrt in den Kriegsmarinehafen trug ihm den Ruf eines Spions ein

Zahn Jahre nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71, in Frankreich „la Guerre franco-allemande“ genannt, ist das Verhältnis beider Länder noch immer angespannt. Für Preußen samt seinen Verbündeten wurde der Sieg zur Geburtsstunde des Deutschen Kaiserreichs und damit des ersten deutschen Nationalstaats. Für Frankreich war die Niederlage eine Demütigung, die durch die Gebietsabtretungen und die auferlegte Reparationszahlung in Höhe von fünf Milliarden Franc noch unterstrichen wurde. Während Frankreich Mühe hat, die gigantische Summe aufzubringen, forciert das Geld in Deutschland die Gründerzeit und macht das Land zur ökonomischen Großmacht. Auch militärisch haben Kaiser und Admirale Großmachtambitionen und beschließen den Bau einer Hochseeflotte. Im wirtschaftlich stark geschwächten Frankreich kursiert dagegen das Schlagwort „Revanche“, und nicht wenige sehnen den Tag herbei, an dem man es dem Nachbarn heimzahlen kann. Gäbe es den Begriff schon, würde man von einem Kalten Krieg sprechen.

Ausgerechnet in diesem politischen Klima beschließen die beiden Brüder Jules (1828–1905) und Paul Verne (1829–1897), dem unliebsamen Nachbarn einen Besuch abzustatten. Vor allem wollen sie unbedingt Wilhelmshaven kennenlernen. Die Stadt am Jadebusen ist keine x-beliebige Hafenstadt, sondern neben Kiel der wichtigste Kriegshafen des Deutschen Reiches. Gegründet wurde sie 1856, um Preußen einen Zugang zum Meer zu schaffen – eine Retortenstadt mit schachbrettartigem Grundriss, ausschließlich militärischen Interessen dienend, eine aus der grünen Wiese gestampfte Siedlung mit durchaus utopisch anmutenden Zügen, deren Einwohner keine bürgerlich-urbane Kultur pflegen, sondern einer strengen militärischen Hierarchie und deren Zielen verpflichtet sind. Die Stadtteile erhalten die Namen französischer Städte wie Metz, Belfort oder Sedan, um an den Sieg über Frankreich und somit den unfreiwilligen Geldgeber zu erinnern.

Genau die richtige Stadt für den Meister der technisch-utopischen Abenteuerliteratur, die erst 1929 die Gattungsbezeichnung „Science-Fiction“ erhalten wird. Für die gewachsenen Hafenstädte Emden, Bremerhaven oder Hamburg zeigt Jules Verne kaum Interesse. Er will die Verwirklichung jener Stadt sehen, die er selbst mit prophetischem Gespür zwei Jahre zuvor für seinen Roman „Die 500 Millionen der Begum“ erfunden hat: die Stahlstadt des Professors Schultze, ebenfalls eine künstliche Stadt, die militärischen Interessen verpflichtet ist und in der an jeder Ecke Superkanonen Macht demonstrieren. Deutsche Macht, versteht sich.

Kaum ein anderer Franzose wäre auf die Idee gekommen, sich ausgerechnet diese deutsche Stadt als Ziel auszuwählen. Viel zu groß wäre das Risiko, als Spion verdächtigt zu werden, sofern man überhaupt Zugang gewährt bekäme. Schließlich ist Wilhelmshaven eine Art „Area 51“ der kaiserlichen Marine, ein militärisches Sperrgebiet, in dem Engländer, Franzosen und Vertreter anderer konkurrierender Nationen unerwünscht sind.

Jules Verne ist sich dennoch sicher, nicht abgewiesen zu werden, denn er weiß um seine Berühmtheit, schließlich schreibt sein deutscher Biograf Max Popp über ihn: „Kein ausländischer Schriftsteller ist in deutschen Landen so populär geworden wie er.“ Der Franzose ist ein Star von europäischem Format, dessen Namen jeder kennt. Er kann es wagen, sich in die Höhle des kaiserlichen Löwen zu begeben, selbst wenn man in ihm einen potenziellen Spion sehen sollte.

Mutig sind ohnedies nicht nur seine Helden; er selbst ist es auch. Das unterscheidet ihn deutlich von seinem Zeitgenossen Karl May, der in Deutschland die Bestsellerlisten anführt. Im Gegensatz zu Karl May kennt Verne auch den zentralen Schauplatz vieler seiner Romane von „20 000 Meilen unter dem Meer“ bis „Zwei Jahre Ferien“ seit Kindheit an und liebt ihn: das Meer. Geboren und aufgewachsen in der Hafenstadt Nantes, die an der Mündung der Loire in den Atlantik liegt, fließt Salzwasser in seinen Adern, auch wenn im Hafen nur kleinere Segelschiffe liegen. Die großen Windjammer aus Übersee legen in Saint-Nazaire an, wo der Hafen tiefer ist. Dorthin zieht es den kleinen Jules immer wieder. Beflügelt von den Erzählungen James Fenimore Coopers, fasst er als Elfjähriger sogar den Entschluss, von zu Hause fortzulaufen und als Schiffsjunge um die Welt zu fahren. Heimlich schleicht er sich auf die „Coralie“, deren Ziel Indien ist. Doch seine Eltern erfahren rechtzeitig von seinem vorpubertären Traum und holen ihren Sohn in letzter Minute von Bord des Klippers.


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mare No. 82

No. 82Oktober / November 2010

Von Bernd Flessner

Bernd Flessner, geboren 1957, lehrt seit 1991 an der Universität Erlangen-Nürnberg Germanistik und Komparatistik. Darüber hinaus arbeitet er als Zukunftsforscher im Netzwerk Zukunft e.V. sowie als Publizist und Schriftsteller. Er schätzt Jules Verne seit Kindheit und hat sich später als Literaturwissenschaftler mit verschiedenen Aspekten seines Werkes befasst. Als gebürtigen Ostfriesen aus Greetsiel hat ihn natürlich die friesische Reise Vernes besonders interessiert.

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Vita Bernd Flessner, geboren 1957, lehrt seit 1991 an der Universität Erlangen-Nürnberg Germanistik und Komparatistik. Darüber hinaus arbeitet er als Zukunftsforscher im Netzwerk Zukunft e.V. sowie als Publizist und Schriftsteller. Er schätzt Jules Verne seit Kindheit und hat sich später als Literaturwissenschaftler mit verschiedenen Aspekten seines Werkes befasst. Als gebürtigen Ostfriesen aus Greetsiel hat ihn natürlich die friesische Reise Vernes besonders interessiert.
Person Von Bernd Flessner
Vita Bernd Flessner, geboren 1957, lehrt seit 1991 an der Universität Erlangen-Nürnberg Germanistik und Komparatistik. Darüber hinaus arbeitet er als Zukunftsforscher im Netzwerk Zukunft e.V. sowie als Publizist und Schriftsteller. Er schätzt Jules Verne seit Kindheit und hat sich später als Literaturwissenschaftler mit verschiedenen Aspekten seines Werkes befasst. Als gebürtigen Ostfriesen aus Greetsiel hat ihn natürlich die friesische Reise Vernes besonders interessiert.
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