Duell der Tiefseegiganten

Tief unten im Meer kämpften zwei Pottwale und ein 20 Meter langer Riesenkalmar. mare war dabei

Nur zwei oder drei Eingeweihte an Bord kennen die Position der „Ocean Explorer“ vor Neufundlands Küste. Das 68 Meter lange Motorschiff der US-amerikanischen Forschungsgemeinschaft National Science Foundation (NSF) tanzt im grünweiß aufgewühlten Frühjahrsatlantik über dem neu entdeckten Prayer’s Gap. Die „Prediger-Spalte“ ist eine trichterförmige, besonders artenreiche Tiefseeschlucht, die jenseits der Great Banks auf 3000 Meter abfällt. Vor allem aber ist sie ein Füllhorn für hungrige Pottwale. Aufdringliche Fragen nach den exakten Koordinaten speist Kapitän Pearson, der dickliche Ex-U-Boot-Kommandant mit seinem Scopolamin-Pflaster gegen Seekrankheit, stets mit der gleichen Antwort ab: „45. Breitengrad plus x. 45. Längengrad plus y.“

Im Elektroniklabor auf dem Mittschiff starren acht Augenpaare gebannt auf die milchig-grauen Unterwasserbilder auf dem Farbmonitor. Expeditionsleiter Hubert

Bögli atmet hörbar durch die Zähne. 400 Meter tiefer streift der Leuchtkegel des Tauchroboters „MicroROV S“ über die blasse Silhouette eines Pottwals. Seit wenigen Minuten heißt das acht Meter lange Jungtier „Angelo“. Ein Muttermal ziert seine Stirn – ebenso wie bei Angelo Martin, dem italoamerikanischen Kombüsenchef. Alle auf der „Ocean Explorer“ vergöttern die Künste des leidenschaft-lichen Muschelkochs.

Ruckweises Flimmern zerreißt mit einem Mal den Anblick des dahingleitenden Wals, die Übertragung bringt nur noch weißes Rauschen. Bögli versucht, durch rasche Fernsteuerungsimpulse dem toten Monitorbild neues Leben einzuhauchen – vergeblich. Der 90000 Mark teure MicroROV hängt nicht mehr am Versorgungskabel. Erstaunlich, mit welcher Gelassenheit Hubert Bögli, der sehnige Meeresbiologe aus der Schweiz, diesen unerwarteten Rückschlag hinnimmt. Kein Fluch, kein zorniger Redeschwall. Dem 58jährigen Pottwal-Experten vom Scharener Institut für Tiefseebiologie sagen Kollegen und Studenten nach, daß sogar ein Orca auf dem Mond Böglis Wortkargheit nicht erschüttern könne. Hinter sei-ner krausen Bartmatte versteckt, vermittelt er den Eindruck des Eigenbrötlertums, jedoch eines aufmerksamen, ausdauernden, zähen.

Zäh – das mußte dieser angefeindete Außenseiter der Scientific Community wohl auch sein, um der Deutsch-Helvetischen Stiftung für Meeresforschung in langwierigen Verhandlungen über 2,5 Millionen Mark für die Forschungsreise abzuringen. Furore machte Bögli vor einiger Zeit mit der kühnen Interpretation bislang unverständlicher Pottwalgesänge. Er glaubt nachgewiesen zu haben, daß sich die bis zu 18 Meter langen Meeressäuger über ihre Fangtaktiken auf akustische Weise verständigen. Doch ein Baustein fehlt dem hartnäckigen Privatdozenten noch in seiner umfassenden Theorie zur „Jagdtechnik der Pottwale“. Der Prayer’s Gap, der „Freßnapf der Wale“, soll diesen Baustein liefern: Bögli ist überzeugt davon, daß Pottwale ihre wuchtigen Buckelschnauzen dazu nutzen, Beutetiere durch Ultraschall zu paralysieren.

Wenige Minuten nach dem Abbruch des Kontakte zu MicroROV geht auf dem Achterdeck ein Raunen durch die versammelte Crew. Der Windenkran befördert ein abgerissenes Drahtende an die Meeresoberfläche – und das schenkelgroße Stück eines riesigen Saugarmes. Neben Bögli lehnt der Oiler an der Reling, der Hilfsmaschinist. Das schwarzblaue Haar des scheinbar alterslosen Inuit Etulu lodert im Wind. „Komme von der Ostküste drüben, etwas weiter nördlich. In unseren Geschichten heißt es: Die biegsamen Strahlen des Riesenseesterns werfen selbst einen Wal aus der Bahn.“ Der Oiler macht eine knappe Handbewegung hinüber zum Tentakelstück: „War offenbar sowas gemeint.“ Bögli runzelt die Stirn.

Auf einmal ist unsichtbar ein Mann an Deck präsent: Clyde Roper, Spezialist für Riesenkalmare. Ja, es muß Roper vom Smithsonian Institute sein, der Bögli durch den Sinn schießt, sein uneingestandener Konkurrent. Während die „Ocean Explorer“ im Nordatlantik dümpelt, ist der Wissenschaftler aus New Hamsphire damit beschäftigt, Kameras an Pottwalen zu befestigen, um so die bis zu 20 Meter langen Tintenfische zu filmen. Im Kaikoura-Canyon vor Neuseeland will Clyde Roper die Pottwale als Spürhunde einsetzen. Denn Pottwale und die zehnarmigen Großmollusken sind benachbarte Glieder der Nahrungskette. In 300 bis 1000 Meter Tiefe liefern sich die Pottwale erbitterte Kämpfe mit den für sie appetitlichen Architeuthis dux, obwohl deren Saugnäpfe Wunden tief wie Spatenstiche reißen können. Kürzlich schoß der Fotograf Emory Kristof Bilder vom Zweikampf zwischen einem Flugkalmar und einem Dornhai (National Geographic 6/98), doch die Kontrahenten waren nur 60 und 90 Zentimeter groß. „Kleinvieh“, hat Bögli kommentiert. Eine Million Dollar hat indes der US-Fernsehsender CBN für Aufnahmen vom echten Duell der Tiefseegiganten ausgesetzt, ein nie dagewesenes Kopfgeld für Exklusivbilder aus der Tierwelt.

Die Millionenprämie bestätigt dem Schweizer wieder einmal das „gierige Mediengetue“. Unter diesen Umständen ist es mehr als ein glücklicher Zufall, daß der Wissenschaftsredakteur von „mare“, ein Meeresbiologe, bereits seit zwei Jahren ab und zu in Böglis Projektteam „Nahrungssuche Pottwal“ volontiert – eine überzeugende Visitenkarte. Nach monatelangem Tauziehen mit der Sekretärin des pressescheuen Schweizers sind schließlich die entscheidenden Tauchgänge „gebucht“: Ein zweiter, unbeteiligter „mare-Reporter“ darf mit von der Partie sein.

Der Augenblick ist da. Zehn Uhr morgens, ein Apriltag keltischen Zwielichts. Bei fünf bis sechs Beaufort rasen die Wolken ihren Schatten auf dem bleigrünen Wellenteppich hinterher, dazwischen Lidschläge voller Sonnenschein. 15 Minuten nach Verlust des MicroROV wird ein Drei-Mann-Tauchboot auf dem Achterdeck klargemacht. Irgendwo unten im Prayer’s Gap muß Angelo mit seiner Mutter auf Jagd sein, vielleicht nach den wirklich großen Futterbrocken. Bögli hat alles vorbereitet.

Das fünfeinhalb Meter lange „Sea Sub III“ ist eine abgespeckte Variante des bewährten Klein-U-Boots „Johnson Sea Link“. Drei Taucher können damit fünf Stunden bis zu 800 Meter hinabgehen. In der wagenbreiten Panorama-Sichtkuppel ist Platz für Pilot und Copilot, direkt dahinter sitzt die dritte Person. Gleich einer klobigen Skulptur, montiert aus lauter Ersatzteilen, hockt das Sea Sub mit den wirren Leitungen, Tanks und Gestängen auf der Plattform. Pilot Bögli und wir beiden mare-Redakteure zwängen uns nacheinander durch die Turmluke. Das vollgestopfte Innere mit den sargähnlichen 110-Volt-Batterieschränken verursacht klaustrophobische Ängste. Jeder paßt auf, nicht versehentlich Hebel umzulegen, während er sich in der wattierten Jacke auf den Schalensitz preßt. Der Schwenkkran hievt den Sea Sub ins Wasser.

Abschied von der Welt des Lichts. Ein paar Spritzer, und die durchsichtige Turmluke schließt sich über unseren Köpfen. Kurz löst das heftige Geschaukel in der Dünung Brechreiz aus. Dann wird es vollkommen ruhig. Mit gefluteten Wassertanks beginnt der freie Fall. Das Sea Sub sinkt einen Meter pro Sekunde. Zwischen den Knien sackt der Blick hinab durch die Plexiglaskuppel – atlantische Finsternis stürzt uns entgegen. Niemand gibt einen Laut von sich. Im schwindenden Dämmerlicht geht es vorbei an Krill, an Ohrenquallen, Seestachelbeeren, Pfeilwürmern. Und immer wieder Flocken von „marine snow“, Kumulationen aus totem Plankton. Durch das Fenster der Einstiegsluke strahlen die Gottesfinger herunter in die Kabine. Ferne, ferne Sonne. Die silbrige Wasseroberfläche zieht sich oben im transparenten Luk zu einem hellgrauen Fleck zusammen, der von Sekunde zu Sekunde schrumpft, während sich die Dunkelheit unter den Füßen verdichtet. Mit einem Mal – ping! – ist auch der verbliebene winzige Lichtpunkt im Luk ausgelöscht, der letzte Botschafter des Lichts. Bei 180 Meter steht jetzt der Tiefenmesser. Und weiter abwärts rauscht der aquatische Fahrstuhl, geradewegs in die Prayer’s Gap. Eine „Wunderlampe“ durchquert das Sichtfeld. Der selbstleuchtende Tintenfisch glänzt wie ein Diadem, von Rubinrot bis Smaragdgrün.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 9. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 9

No. 9August / September 1998

Eine Reportage von Frank J. Jochem und Thomas Worm

Frank J. Jochem ist mare-Wissenschaftsredakteur und promovierter Meeresbiologe.

Thomas Worm ist mare-Redakteur für Politik und Wirtschaft

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