Drei-Uhr-Zug nach Irvine

Eine Strand-Kurzgeschichte mit Polaroid-Kunst

Es war heiss. Es war greif-dir-ein-Badetuch-zieh-dir-die-Sonnenbrille-an-und-vergiß-den-gutbezahlten-Job heiß. Ein Tag mit Rückenschmerzen würde die Räder der Industrie schon nicht zum Stillstand bringen, außerdem lief Maureens Vertrag in zwei Wochen sowieso aus. Eigentlich wollte sie Kerry mit nach Glasgow nehmen. Mike warf einen Blick aus dem Schlafzimmerfenster. Diesiges Rosa verwandelte sich allmählich in ein Blau, das einen an Italien, Südfrankreich, Bondi Beach denken ließ. Nur nicht an Irvine, wo sie wohnten. Er sagte zu Maureen:

„Du bist verrückt. Du kannst zu einem Anstellungsinterview kein Kind mitnehmen. Sie werden dich gar nicht erst reinlassen. Ich melde mich krank...“ Sie hob die Augenbrauen, und er fuhr hastig fort:

„Einen Tag – nur für einen Tag. Ich geh’ mit Kerry an den Strand.“ Er wandte sich an die Tochter und zwinkerte ihr zu.

„Wollen wir uns in die Wellen stürzen, Babe?“

Ohne zu antworten stürzte sie die Treppe hinauf und rief:

„Wo ist mein neuer Badeanzug, Ma? ...Ma?“

Maureen sah Mike mit steinerner Miene an und rief hinauf:

„Rechts, dritte Schublade“, dann senkte sie die Stimme. „Halt dich bloß von den Wettbüros fern.“ Er hob seine Arme in einer hilflosen Geste, dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände. Sie trug ein dunkles Kostüm und Make-up, was ungewöhnlich war, und sie sah energisch und sexy aus. Er gab ihr einen brüderlichen Kuß.

„Zeig’s ihnen.“

Sie lächelte ihn gedankenverloren an und schüttelte den Kopf. Er tat, als sei er enttäuscht.

„War das alles?“ Aber sie war bereits dabei, Papiere in eine große, schwarze Umhängetasche aus Nylon zu stopfen.

„Bis um halb vier am Bahnhof.“ Dann rannte sie los, um den Halb-zehn-Uhr-Bus zu erwischen.

Ein Gefühl der Erleichterung befiel ihn, als die Tür ins Schloss fiel. Er holte die Büchse, in der das Geld für die Stromrechnung lag. Wer brauchte schon Strom an einem Tag wie diesem? Er rief nach oben:

„Kerry?“ Sie rief zurück:

„Hol die Luftmatratze!“

Er nahm diese aus dem Schrank unter der Treppe. Er wusste, sie würde den Job kriegen. Heute war ein guter Tag.

Gegen zehn Uhr erreichten sie den Strand. Es waren schon recht viele Menschen da. Die weite Betonfläche des Parkplatzes am Hafen füllte sich allmählich, ein unglaublicher Lärm schlug ihnen entgegen. Normalerweise gab es hier nichts anderes zu hören als den Wind und das Geschrei der Möwen, die aber heute vollauf mit Sturzflügen auf Butterbrote beschäftigt waren. Heute vernahm man hier das Geschrei von Babys, das Gekichere von jungen Mädchen, das Getratsche alter Männer, das Rufen und Lachen von Kindern und den Wettstreit von Kassettenrekordern mit dem Gebimmel der Eisverkäufer. Es schien als habe sich die ganze Stadt hier versammelt. Während sie sich einen Weg durch den Trubel bahnten, betrachtete Kerry alles mit großen Augen.

Sie stiegen die Betonstufen am Leuchtturm vorbei zum Sand hinab. Er zeigte ihr, wo sie sich auf einen Felsen setzen konnte, und sie zogen sich die Schuhe aus. Sie trat ihre beiseite und lief los. Er hob sie auf, folgte ihr und sah ihr zu, wie sie in die flachen Pfützen am Wasser hüpfte.

Ungefähr eine Meile zum äußeren Ende der geschwungenen Bucht hin fand er ein etwas ruhigeres Plätzchen. Kerry zog sich rasch ihre Shorts aus und stürzte sich im Badeanzug in die Wellen. Er rollte das Badetuch aus, dann sah er auf die Uhr. Halb zwölf, fast schon Mittagszeit. Er betrachtete die Bierdosen, die er gekauft hatte. Sie würden sich schnell erwärmen. Er kontrollierte, dass Kerry sich nicht zu weit entfernt hatte, dann setzte er sich auf die Luftmatratze und schloss die Augen. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und er lauschte mit Genugtuung dem leisen Zischen entweichender Kohlensäure, als er die Dose öffnete.

Der Zug hatte Verspätung. Bloß zehn Minuten, aber das genügte, um sie nervös zu machen. Alle Plätze waren belegt. Sie stand im Gang eingeklemmt, die Umhängetasche dicht an den Körper gepresst, und hatte gerade genug Platz, um sich um ihre eigene Achse zu drehen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, einige Fragen aufzuschreiben, gerade so, wie es einem die Broschüre vom Arbeitsamt riet, aber daran war erst wieder zu denken, wenn der Zug sich in Paisley leerte. Ihre Bluse troff vor Schweiß, dem kein Deodorant gewachsen war. Dies war entschieden das falsche Wetter für derartige Unternehmungen. Die freundlich-weiche Stimme am Telefon hatte sich als Andy vorgestellt.

„Es geht uns nicht um Qualifikationen, Maureen, sondern um eine warme Persönlichkeit und die richtige Einstellung. Ich würde Ihnen gerne Ihre Möglichkeiten hier bei White Arrow Recruitment näher erläutern, es handelt sich hierbei lediglich um ein zwangloses Gespräch und ein paar einfache Tests, also nichts, was Sie beunruhigen müsste. Hätten Sie morgen früh Zeit?“

Im Hintergrund hatte sie Telefone klingeln gehört und Stimmen, die anderen Anrufern genau das gleiche erzählten. Irgendwie wusste sie, wenn sie Nein sagte, dann war die Sache erledigt. Erst als sie aufgelegt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie noch nie in ihrem Leben an einem Einstellungsgespräch teilgenommen hatte. Keinem richtigen zumindest, das erfordert hätte, dass man in einem Kostüm erscheint. Und hier stand sie nun in einem Kostüm, mit einer Tasche, die möglichst nach Akten auszusehen hatte, auf dem Weg zu Tests, Interviews und „zwanglosen Gesprächen“. Der Zug hielt in Kilwinning, und noch mehr Leute stiegen zu. Als sie Johnstone erreichten, war ihr so schlecht von der Hitze, dass sie erwog, auszusteigen und ein bisschen frische Luft zu schnappen. Aber dann würde sie vermutlich geradewegs den ersten besten Zug nach Hause nehmen, wo Mike und Kerry jetzt am Strand lagen. Sie wollte bei ihnen sein, mit ihnen schwimmen und lachen. Mike würde mit den Leuten am Strand plaudern und dabei entspannt lächeln, alles wäre eitel Freude. Es wäre schön, einfach dort zu sein, ohne sich über Geld, Interviews oder die Zukunft zu sorgen. Aber das war nun mal ihre Aufgabe, obwohl sie momentan kaum über die nächsten vier Stunden hinaus denken konnte. Sie schaute auf die Uhr. Elf Uhr. Es begann um halb zwölf. Sie sah ein, dass sie zu spät kommen würde.

Eine Horde von Collegestudenten stieg in Paisley aus. Sie fand einen Platz und nahm ihre Pappmappe hervor und versuchte, sich intelligente Fragen auszudenken. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie wusste nicht einmal, wie das Gehalt aussah. Andy hatte ihr gesagt, das würde sie später alles erfahren, und sie wusste, dass es vermutlich nicht besser bezahlt war als der Kassenjob bei Asda. Aber darauf kam es auch nicht an. Sie schloss die Augen und versuchte herauszufinden, worauf es denn ankam. Entspann dich, dachte sie und stellte sich vor, in einem dunklen Meer zu schwimmen, wie ein Schwimmer im Ärmelkanal des Nachts, rhythm – Zisch, Zug um Zug, mit ruhigem Atem und der Gewissheit, dass das Land vor ihm lag, es war nur eine Frage der Zeit.

Mike öffnete die Augen, und einen Moment lang blendete ihn die Sonne. Einige bekannte Gesichter aus der Firma waren ihm in der Menge aufgefallen. Ah, dachte er, diese Eintagsgrippe, dann öffnete er eine neue Dose. Er blinzelte ins Licht und sah durch das Flimmern der ungewohnten Hitze das Schimmern des Wassers. Mit einer trägen Kopfbewegung konnte er geradeaus vor sich die vertrauten gelb-rosa Sonnenblumen von Kerrys Badeanzug erkennen. Sie stand bis zu den Knien im Wasser, planschte und unterhielt sich mit einem Mädchen, das im Wasser saß und die Zehen in die Luft streckte. Er lächelte und dachte mit leisem Schuldgefühl an Maureen im Zug und die zweite Hälfte seiner Schicht.

Als Kind war er oft hierhergekommen, hatte die Schule geschwänzt, Fußball gespielt, den Reitern dabei zugeschaut, wie sie durch das flache Wasser ritten, und viel gelacht. Später dann hatte er Maureen hierhergebracht. Er dachte daran zurück, wie er sie am Strand zum ersten Mal geküsst hatte.

Es hatte Monate gedauert, bis er Mut fasste. Es herrschte eisiges Winterwetter. Er stand im Sand, seine Finger spielten zum ersten Mal mit ihrem langen, kastanienbraunen Haar, während sie vor ihm auf der Betonstufe stand und mit einem Auge, halbgeöffnet, Kerry, die gerade Laufen gelernt hatte, dabei zusah, wie sie in ihrem Schneeanzug umherstapfte und Sandburgen baute.


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mare No. 8

No. 8Juni / Juli 1998

Von Morag McDowell und Carlo Iavicoli

Übersetzt von Charlotta Rüegger, Stockholm.

Morag McDowell, 1959 in Glasgow geboren, lebt nach Jahren in Frankfurt, München und Brighton heute im schottischen Irvine.

Carlo Iavicoli, geboren 1954, lebt im italienischen Pescara. Seine hier gezeigten Polaroids schoß er 1983 und 1984 an der Adria

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Vita Übersetzt von Charlotta Rüegger, Stockholm.

Morag McDowell, 1959 in Glasgow geboren, lebt nach Jahren in Frankfurt, München und Brighton heute im schottischen Irvine.

Carlo Iavicoli, geboren 1954, lebt im italienischen Pescara. Seine hier gezeigten Polaroids schoß er 1983 und 1984 an der Adria
Person Von Morag McDowell und Carlo Iavicoli
Vita Übersetzt von Charlotta Rüegger, Stockholm.

Morag McDowell, 1959 in Glasgow geboren, lebt nach Jahren in Frankfurt, München und Brighton heute im schottischen Irvine.

Carlo Iavicoli, geboren 1954, lebt im italienischen Pescara. Seine hier gezeigten Polaroids schoß er 1983 und 1984 an der Adria
Person Von Morag McDowell und Carlo Iavicoli