Dorsch im Lüsterglanz

Ein Koch aus Westfalen hauchte dem historischen Restaurant „Strandhalle“ auf Rügen ein neues kulinarisches Leben ein

Die Binzer „Strandhalle“ wurde schon bald nach ihrer Eröffnung 1893 durch den Hotelier Wilhelm Klünder zur Legende und ist es bis heute geblieben. Wenn mein Onkel Otto, ein alter Rüganer, mit mir in den 1960ern auf dem Weg in die Granitz hier vorbeikam, knurrte er stets: „Ja, die ‚Strandhalle‘. Da gab es mal rauschende Feste, mein Junge. Champagner, Austern und Schwoof bis nach Mitternacht! Und was ist davon geblieben?“

Geblieben war ein wellblechverkleideter Kasten mit Spitzdach, dessen Fens­ter von vergilbten Gardinen verhängt waren. Ein Schild an der Tür verkündete die Essenszeiten für die Urlauber im benachbarten FDGB-Ferienheim „Strandschloss“ – vier Durchgänge. Das Gebäude sah nach einer heruntergekommenen Lagerhalle aus, und tatsächlich wurden zum Ende der Saison die Strandkörbe des Ferienheims dort eingelagert. Dabei hatte Klünder die „Strandhalle“ als Tanz- und Speisesaal im Stil skandinavischer Holzhallen errichten und mit kunstvollen Drechselarbeiten verzieren lassen. 1942 fand er mit Albert Härtelt einen Nachfolger, der aber schon 1953 während der „Aktion Rose“ von den DDR-Behörden enteignet wurde. Aus der „Strandhalle“ machte man die „Zentrale Verpflegungsstelle“ für die umliegenden Ferienheime. Wer hier einmal verpflegt wurde, hat die Menüs der Gewerkschaftsküche sein Leben lang nicht vergessen.

Nach dem Ende der DDR entdeckte der Westfale Toni Müns­ter­teicher das Haus und eröffnete es 1997 wieder als „Strandhalle“. Münsterteicher hatte vorher als Küchenchef im „Steigenberger“ auf Gran Canaria gekocht und danach für den Papenburger Schiffbauer Bernd Meyer die Gastronomie im Hotel „Alte Werft“ entwickelt. „Ich wollte nach 1989 etwas Neues ausprobieren, und da erwies sich Binz als Glücksfall. Hier kam ich auf die Idee: feinbürgerliche Küche mit großbürgerlichen Portionen zu kleinbürgerlichen Preisen. Ein Restaurant für Gäste, nicht für Tester.“ 

Die „Strandhalle“ wurde schnell zum Geheimtipp, auch weil Münsterteicher hiesige Gerichte mit westfälischer Küchenfantasie ergänzte. „Unsere Klassiker sind regionale Kompositionen, und die richten wir mit regionalen Produkten an. Der Fisch kommt von Fischern aus Sassnitz und Gager, das Fleisch von der Rügener Landschlachterei, das Obst und Gemüse aus Mönchgut.“ Daraus werden etwa Hiddenseer Bücklingsfilets, Labs­kaus mit Kräutermatjestatar und „Lothars Leibgericht“: Ostseedorsch, von der Gräte gerupft, mit Kartoffel-Erbsen-Stampf und Senfsauce. „Lothar war Fischer, aber er hasste Gräten. Deswegen musste ihm seine Frau Lydia das Filet vom gekochten Dorsch rupfen. Das kam dann auf die Kartoffeln. Ich habe das Rezept von Lydia persönlich, aber natürlich ein bisschen was dazugetan“, erzählt Münsterteicher.

„Lothars Leibgericht“ ist einer der Gründe, warum ich Jahr für Jahr wieder in die „Strandhalle“ komme und lange im Voraus einen Fensterplatz reserviere, von dem aus man den Sassnitzer Hafen und die Jasmunder Kreideküste sehen kann. Der andere Grund ist die Ausstattung, in der man ohne viele Umbauten einen Film über die Anfangsjahre der „Strandhalle“ drehen könnte, von denen mein Onkel melancholisch schwärmte. Neben Gründerzeitmöbeln gibt es an den Wänden Seestücke – und als Glanzstück einen Kronleuchter aus der Komischen Oper Berlin, der von der acht Meter hohen Decke strahlt. Für „Strandhallen“-Neu­linge hat Münsterteicher ein Testmenü zusammengestellt, das aus den Lieblingsgerichten der internationalen Stamm­gäste besteht. Viele Gerichte werden auf handbemalten Tellern serviert, die eigens für die „Strandhalle“ angefertigt wurden. Wenn man genau hinsieht, entdeckt man darauf den Küchenchef mit seinem sorgfältig gedrehten Schnauzbart. 

Nach 25 Jahren am Herd hat Münsterteicher das operative Geschäft an seine Frau Jana übergeben und kümmert sich vor allem darum, dass die Qualität erhalten bleibt. Würde er noch einmal in Binz anfangen, wenn er die Wahl hätte? „Hier hat sich viel verändert, nicht alles zum Besseren. Aber die ‚Strandhalle‘ würde ich wieder übernehmen, auf jeden Fall.“ So viele kulinarische Legenden gibt es schließlich auf Rügen nicht. 


„Lothars Leibgericht“

Zutaten (für 4 Personen)
800 g Dorschfilet (4 Stück), Schuss Weißwein, 1 Zitrone, Salz, Pfeffer.

Zubereitung
Vier Dorschfilets mit Salz und ­Pfeffer würzen. 1 Liter Wasser mit einem Schuss Weißwein, dem Zitronensaft und 1 Esslöffel Salz kurz aufkochen und in ein tiefes Backblech in den auf 180 Grad vorgeheizten Backofen geben. Die Dorschfilets in diesen Sud legen, 10 Minuten pochieren, dann wenden und noch einmal 10 Minuten pochieren. Zwischendurch Garprobe machen. Dazu passen Kartoffelstampf mit Erbsen und frittierte Zwiebelringe. 

Strandhalle Binz 
Strandpromenade 5, 18609 Binz, Rügen, Telefon +49 38393 31564, www.strandhalle-binz.de, täglich geöffnet von 12 bis 23 Uhr.


mare No. 160

mare No. 160Oktober / November 2023

Von Holger Teschke und Charlotte Schreiber

Holger Teschke, geboren 1958 auf Rügen und dort aufgewachsen, fuhr bis 1980 zur See und studierte anschließend Schauspielregie in Berlin. Er arbeitete als Dramaturg und Autor am Berliner Ensemble und als Artist-in-residence und Gastregisseur in Nordamerika, Australien und Südostasien.

Charlotte Schreiber, Jahrgang 1986, studierte Fotografie und ist freiberufliche Fotografin in Hamburg.

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Vita

Holger Teschke, geboren 1958 auf Rügen und dort aufgewachsen, fuhr bis 1980 zur See und studierte anschließend Schauspielregie in Berlin. Er arbeitete als Dramaturg und Autor am Berliner Ensemble und als Artist-in-residence und Gastregisseur in Nordamerika, Australien und Südostasien.

Charlotte Schreiber, Jahrgang 1986, studierte Fotografie und ist freiberufliche Fotografin in Hamburg.

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Holger Teschke, geboren 1958 auf Rügen und dort aufgewachsen, fuhr bis 1980 zur See und studierte anschließend Schauspielregie in Berlin. Er arbeitete als Dramaturg und Autor am Berliner Ensemble und als Artist-in-residence und Gastregisseur in Nordamerika, Australien und Südostasien.

Charlotte Schreiber, Jahrgang 1986, studierte Fotografie und ist freiberufliche Fotografin in Hamburg.

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