Distant Objects of Desire: Die schönen Matrosen

Der Seemann als Ikone der Homoerotik im Film

Die Phantasiegestalt des schönen Matrosen hat Hans Henny Jahnn zu einem der heißesten Küsse der Weltliteratur inspiriert. Grund genug, auf dieses Idol vor allem homosexuellen Verlangens einen längeren Blick zu werfen. Der Matrose Gari küsst den Reederssohn Matthieu in der Umkleidekabine einer Badeanstalt, und zwar so: „Plötzlich presste Gari mit dem Gewicht seines Körpers den Freund gegen eine der Holzwände, kam mit seinem Kopf ganz nahe dem Matthieus, öffnete den Mund und schob seine feuchten vollen Lippen über die des andern. Matthieu war einen Augenblick gelähmt. Schließlich begriff er die Gewalt dieses Kusses. Ihre Zähne knirschten aufeinander. Gari hob das eine seiner Knie und presste es zwischen die Schenkel Matthieus, der vor Schmerz hätte schreien mögen. Aber sein Mund war geschlossen, und der Schmerz vergrößerte sich zur Wollust. Mit geschlossenen Augen, kaum fähig zu atmen, weil die Nase Garis die seine verschloss, gab er sich der Berührung hin, diesem Kusse, der Minuten währte und allmählich nach Blut schmeckte.“

Der Matrose, so kann man lesen und kann man hören, war der, der nach harten Monaten auf See die Häfen ferner und fernster Länder anläuft und dort Abenteuer erlebt, von denen die zu Hause Gebliebenen nur träumen. Er war der, der von ganz weit her, von Ceylon, Sumatra, der Osterinsel oder aus der Südsee die seltsamen Dinge mitbringt, die die Phantasie beflügeln und das Fernweh wecken: Gifte, Götzen und Gewürze, Lingame und Aphrodisiaka, sonderbare Münzen, Schrumpfköpfe, bunte Vögel und Meerkatzen.

Er war, so heißt es, mit seinen Kameraden und mit dem Ozean verheiratet, frei von allen bürgerlichen Zwängen, hatte in jedem Hafen der Welt eine Geliebte oder auch einen Geliebten; er zog sich die geheimnisvollen Krankheiten zu, die die Ärzte vor Rätsel stellen. Oder aber er schwor und hielt der Frau, die mit dem Säugling auf dem Arm weinend am Kai steht, die ewige Treue.

Nicht erst heute ist das meiste von dem, was die Faszination der Figur des Matrosen irgendwann einmal ausgemacht haben mag und ihn zum Helden so vieler Romane der Weltliteratur hat werden lassen, zu diesem Klischee geronnen, das, mühsam wieder flott gemacht, von Hans Albers oder Barden wie Freddy Quinn besungen wird.

Zum Erben des weitgereisten Matrosen sind im Zeitalter der Containerschiffe und des absoluten Tourismus, der die fernsten Länder nach seltsamen Dingen abgrast, die Comicmatrosen Popeye und Donald Duck und dann der durchtrainierte Single geworden, der mit der so gut geschnittenen Matrosenuniform als todsicher wirksamem Blickfang in die Szene geht.

Modedesigner, Trash-Künstler, die Werbung und die Pornoindustrie münzen erfolgreich die auf die Gestalt des schönen Matrosen projizierten Sehnsüchte und sexuellen Phantasien in Bares um, und es ist erstaunlich zu sehen, wie sich die Strahlkraft dieser Ikone trotzdem nicht ganz verloren hat. Noch immer, so scheint’s, haftet den Matrosen, den „distant objects of desire“, eine „traurig-romantische Aura“ an, wie der Schauspieler Quentin Crisp das genannt hat: „They are the ones who go away.“

Unter der Hand regeneriert sich der zählebige Mythos des „sexuellen Abenteurertums“ der Matrosen auch in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich eigentlich die Entzauberung etwa des vielbegehrten Sailors der US-Navy zum Ziel setzen: Die Anfang der neunziger Jahre in den USA über die Frage der Legitimität des Militärdienstes homosexueller Männer und Frauen geführte Debatte beendete die Clinton-Administration mit einem Kompromiss, der in der matten Formel „don’t ask, don’t tell, don’t pursue“ – nicht fragen, nichts sagen, nicht verfolgen – zusammengefasst wurde.

Für den amerikanischen Soziologen Steven Zeeland war das der Anlass für eine empirische Untersuchung zum Thema, die 1995 unter dem Titel „Sailors and Sexual Identity“ erschien. Die provozierende und durch reiches Interviewmaterial belegte These der Studie besteht darin, dass die Tabuisierung von Homosexualität in der Navy den Militärs paradoxerweise gerade deshalb so sehr am Herzen liege, weil eben dadurch homoerotische Militärrituale und auf den Zwischendecks des Bewusstseins ablaufender mann-männlicher Sex vom Verdacht freigehalten werden könnten, etwas mit Homosexualität „im eigentlichen Sinne“ zu tun zu haben:

Das bezieht sich zunächst auf die massiv homoerotischen Initiationsrituale, die an den Novizen während der sogenannten Äquatortaufe vollzogen werden: Veranstaltungen, bei denen gleichgeschlechtlicher Anal- und Oralverkehr mindestens simuliert werden. Steven Zeeland pointiert aber letztlich die sexuellen Grenzüberschreitungen im Sozialgefüge der US-Marine, die mehr Homosexuelle in ihren Reihen zu haben scheint, als man vor dieser Studie meinte.

Gerade an den Soldaten der Navy lässt sich, so Zeelands weitreichende These, die Untauglichkeit der starren Rubriken „hetero-“ und „homosexuell“ aufzeigen, wird der Blick geschärft für das breite Spektrum erotischer Aktivitäten des Menschen. Und damit blüht der Mythos vom Matrosen als eines Traumprinzen im Reich der Lust auch hier wieder auf.

Der Seemann als das Urbild dessen, der die Welt zu sehen bekommt und Ungeheuerliches erlebt, ist damit auch zum Urbild des Erzählers avanciert. Von Odysseus über Ismael und Kapitän Ahab im „Moby Dick“, John Silver, Kapitän Nemo hin zu Lord Jim und weiter reicht die Reihe berühmter Namen aus der Literatur.

Neben dieser Geschlechterfolge sozusagen jugendfreier Seemänner, die man zur Konfirmation geschenkt bekommt, gibt es aber auch die in düsterem Licht strahlende Seitenlinie der mordenden und ausschweifenden Matrosen, die meist in Personalunion erscheinen. Ihr berühmtestes Exemplar ist wohl der Titelheld von Jean Genets Roman „Querelle“, der mit der lapidaren Feststellung beginnt: „Mit der Vorstellung von Mord verbindet sich oft der Gedanke an Meer und Matrosen. Meer und Matrosen erscheinen dann nicht mit der Schärfe eines Abbildes, Mord läßt vielmehr unsere Erregung in Wogen verebben.“

Während in den Texten, die die Kinderzimmer füllen, die Seeleute vor allem als Träger des abenteuerlichen Geschehens fungieren, stehen die Brüder der dunklen Seitenlinie als sie selbst im Blick. Eigentlicher Gegenstand der Erzählung ist die Gestalt des „schönen Matrosen“ und sein verhängnisvolles Schicksal. Am Anfang steht hier Herman Melvilles Geschichte des von seinen Kameraden umschwärmten und bemutterten Billy Budd, dessen „natürlicher Adel, der seine Gelenke so biegsam machte, in seinen blonden Haaren wehte und seinen Nacken so schmal gebildet hatte, ihn zu einem so schönen, zu dem ,Schönen Matrosen‘ schlechthin machte.“

Der schöne Matrose als Objekt gleichgeschlechtlichen Verlangens hat die Zeit der durch gesellschaftliche Repression erzwungenen Verquickung von Homosexualität und Kriminalität, zu deren klassischen Orten die verrufene Hafenkneipe rechnet, überlebt. Denn, so der Literaturwissenschaftler Wolfgang Popp, im Bild des schönen Matrosen „verdichtet sich eine literarische Chiffre der homosexuellen Phantasie: körperliche Männerschönheit, Virilität, erotische Ausstrahlung, maskuline Kameraderie, die reine Männergesellschaft auf dem Schiff, das Aufeinander-angewiesen-sein der Männer auf See“.


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mare No. 4

No. 4Oktober / November 1997

Von Eckart Goebel

Eckart Goebel, Jahrgang 1966, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Er lebt und arbeitet in Berlin. Für mare No. 1 verfasste er einen Artikel über Thomas Mann.

Die Fotos stammen aus dem Film Querelle von Rainer Werner Fassbinder, Fotografien von Roger Fritz

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Vita Eckart Goebel, Jahrgang 1966, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Er lebt und arbeitet in Berlin. Für mare No. 1 verfasste er einen Artikel über Thomas Mann.

Die Fotos stammen aus dem Film Querelle von Rainer Werner Fassbinder, Fotografien von Roger Fritz
Person Von Eckart Goebel
Vita Eckart Goebel, Jahrgang 1966, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Er lebt und arbeitet in Berlin. Für mare No. 1 verfasste er einen Artikel über Thomas Mann.

Die Fotos stammen aus dem Film Querelle von Rainer Werner Fassbinder, Fotografien von Roger Fritz
Person Von Eckart Goebel