Die Zauber-Segler

Dauen, die schnellen Lastenschiffe an den Küsten Kenias, fahren mit Inspiration und Magie

Die Rufe der Muezzins erschallen lange vor Tagesanbruch. Der Erste erhebt sich melodisch, aber noch etwas dumpf aus dem Gassenlabyrinth im Zentrum von Lamu. Ein paar Minuten später tönt es schrill von der großen Moschee im Norden der Stadt. Irgendwo mischt sich ein warmer Tenor in das Konzert: „Allah ist groß! Erwachet! Erwachet! Beten ist besser als Schlafen…“

Kaum ist der letzte Ton verhallt, erklingt ein neuer Ruf über der Stadt. Weniger melodisch, aber ebenfalls aus alten Zeiten. Er kommt vom Hafen, von den Kais, wo die Dauen festgemacht haben. Was sich von weitem anhört wie ein Wettbrüllen von Börsianern, sind wichtige Ansagen über den Schiffsverkehr – zum Festland, nach Shela, zu den anderen Inseln, mit dieser oder jener Ladung an Bord, um soundsoviel Uhr.

Der Alltag auf der Insel beginnt. Auf den engen grünen Wasserstraßen, Alleen, die auf beiden Seiten von Mangroven gesäumt sind, setzt der Ebbstrom ein. Im Hafen geraten Menschen und Waren in Bewegung. Im Archipel rund um Lamu pulsiert das Leben seit Jahrhunderten im Rhythmus der Gezeiten.

Lamu, die „Insel der Eitelkeit“, Manda, Pate, Kwaihu – diese Erhebungen vor der Küste Kenias, Sandbänke eines urzeitlichen Deltas, haben einmal die Außenposten großer Imperien beherbergt. Im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung kamen griechische Seeleute; sie trugen die fremde Küste in ihre nautischen Handbücher unter dem Namen „Azania“ ein. Die Boten des Islam kamen im achten Jahrhundert. Der Nordwind Kaskasi, der alljährlich den Monsun bringt, blies irgendwann auch die Segler und Händler aus Persien und Arabien bis zum Archipel von Lamu. Große Dauen aus Basrah, Buschir, Ganaweh und Muskat, vom Golf von Amman und sogar aus dem fernen Indien.

Die Entdecker bauten Festungen, die ihnen folgenden Einwanderer Paläste aus Stein. Die Neuinsulaner umgaben sich mit ihrer eigenen Architektur, ihren eigenen Kunstwerken, sie lebten ihre eigenen Rituale. Was ist davon geblieben? Von den Sultanspalästen nur sandige Ruinen. Wind und Wetter haben die Festungen geschliffen. Die vom Monsun verbreitete Zivilisation ist auf eine Reihe kleiner Siedlungen und Häfen zusammengeschrumpft. Nur eines hat die Jahrhunderte überdauert: Die Dauen sind noch immer der Schlüssel zum Leben auf den Inseln.

Die geblähten, fleckiggelben Dreiecke ihrer Segel gehören wie die Dampflokomotive oder das Kamel zu den ewigen Symbolen des Fernwehs. Das uralte, an der afrikanischen Ostküste allgegenwärtige Bild löst bei Reisenden sofort einen romantischen Reflex aus. Sie träumen von Passatwinden und dem Herrn der Gezeiten; Elfenbein und exotische Gewürze rangeln um einen Platz in ihrer Fantasie. Dabei ist die historische Realität dieser Schiffe eine harsche: Viele Jahrhunderte lang transportierten die Dauen nicht nur Genuss und Geschmeide, sondern vor allem Sklaven. Von der Insel Sansibar im Osten Afrikas ging die Reise nach Oman im Osten der arabischen Halbinsel. Die Überreste des Sklavenmarkts von Stonetown, der alten arabischen Hauptstadt von Sansibar, stehen noch heute.

Für den Laien sind alle afrikanischen Segelboote Dauen. Erkennungszeichen ist das große Lateinersegel, ein dreieckiges Tuch, das an einer langen, schräggestellten Rahe gesetzt wird. Aber es gibt einen weit verzweigten Stammbaum ostafrikanischer Küstensegler, die so getakelt sind. Und sie haben so viele Namen wie Funktionen wie Heimathäfen.

Tatsächlich ist das Schiff, das auf Suaheli „Dau“ heißt, das kleinste der Familie. Keine zehn Meter lang und weniger als zehn Tonnen schwer, laufen die Dauen an Bug und Heck spitz zu. Viele haben einen flachen Boden, sind an den Spanten entlang gebaut und nicht auf einem Kiel. Sie tragen meist nur ein riesiges Lateinersegel und erreichen auf raumen (Vorwind-)Kursen enorme Geschwindigkeiten. Im Windschatten der Inseln aber oder in engen Fahrwassern, wo gegen den Wind schnelle kurze Kreuzschläge gefragt sind, werden die Dauen gerudert oder mit den Riemen gestakt.

Weit verbreitet als seegängiger Lastensegler ist die „Jahasi“ aus Lamu, ein 30-Tonner mit einem geschwungenen Heck, der an die portugiesischen Galeonen des 16. Jahrhunderts erinnert. „Jahasi“ hat eine kleine Schwester, „Maschua“ genannt, die in den geschützten Gewässern zwischen den Inseln eingesetzt wird. „Maschua“ macht sich beim Fischen nützlich, auf der Jagd nach Haien und beim Ausbringen von Stellnetzen und transportiert außerdem Pilger von einer Insel zur nächsten.

In Matondoni auf der Insel Lamu werden Dauen heute noch gebaut, und zwar genauso wie vor Hunderten von Jahren. Die Bootsbauer arbeiten mit traditionellem Werkzeug und fertigen die Rümpfe komplett in Handarbeit. Für ein einziges Schiff brauchen sie Monate, aber dafür sind die Dauen nachher so robust, dass sie es in puncto Lebenserwartung mit jedem modernen Schiff gleicher Größe aufnehmen können. Nägel und Schrauben sind für die afrikanischen Bootsbauer ein relativ neues Material. Sie vertrauen nach wie vor lieber auf hölzerne Stifte und handgefertigte Verbindungsstücke und arbeiten dabei so genau, dass zwischen die Planken einer Dau kein Fingernagel passt.

Das Ergebnis einer derartigen Verausgabung menschlicher Energie und Inspiration kann dann nicht einfach ein Gebrauchsgegenstand sein, der irgendeinem So-und-so gehört. Das fertige Schiff ist nicht einfach eine Dau, Jahasi oder Maschua, es ist ein Wesen mit eigener Identität. Es kann sehen, denn es hat Augen auf dem steilen Bug.


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mare No. 18

No. 18Februar / März 2000

Von Alison Campbell und Jack Picone

Alison Campbell, geboren 1961 in Simbabwe, ist freie Journalistin und lebt heute in Australien.

Sie ist verheiratet mit dem Fotografen Jack Picone, Jahrgang 1959, der 1999 einen „World Press Photo Award“, 1. Preis in der Kategorie Einzelfoto/Alltagsleben, gewonnen hat – mit dem Foto auf Seite 129. Picone ist Mitglied der Agentur Network. Das Reporterpaar, das sechs Wochen lang auf afrikanischen Dauen mitgesegelt ist, veröffentlicht zum ersten Mal in mare

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Vita Alison Campbell, geboren 1961 in Simbabwe, ist freie Journalistin und lebt heute in Australien.

Sie ist verheiratet mit dem Fotografen Jack Picone, Jahrgang 1959, der 1999 einen „World Press Photo Award“, 1. Preis in der Kategorie Einzelfoto/Alltagsleben, gewonnen hat – mit dem Foto auf Seite 129. Picone ist Mitglied der Agentur Network. Das Reporterpaar, das sechs Wochen lang auf afrikanischen Dauen mitgesegelt ist, veröffentlicht zum ersten Mal in mare
Person Von Alison Campbell und Jack Picone
Vita Alison Campbell, geboren 1961 in Simbabwe, ist freie Journalistin und lebt heute in Australien.

Sie ist verheiratet mit dem Fotografen Jack Picone, Jahrgang 1959, der 1999 einen „World Press Photo Award“, 1. Preis in der Kategorie Einzelfoto/Alltagsleben, gewonnen hat – mit dem Foto auf Seite 129. Picone ist Mitglied der Agentur Network. Das Reporterpaar, das sechs Wochen lang auf afrikanischen Dauen mitgesegelt ist, veröffentlicht zum ersten Mal in mare
Person Von Alison Campbell und Jack Picone