Die Welle aus dem Nichts

Eine gefürchtete Sneakerwelle an Islands Südküste raubte einer Familie erst die Frau und Mutter, dann das Lebensglück

Während die Wellen auf den Atlantik hinausziehen, wirst du die anderen am Strand, aufgeregt ‚Hilfe!‘ rufend, herumlaufen sehen. Doch für Rettung ist es zu spät.“ Jedes Mal, bevor sich die Bustüren am Parkplatz des schwarzen Lavastrands Reynisfjara im Süden Islands öffnen, beschreibt Guide Börkur Hrólfsson seinen Reisegruppen, auf welche Weise sie an einem der berühmtesten, aber auch gefährlichsten Strände der Welt sterben könnten, falls sie seine Mahnungen nicht beherzigten. „Niemals dem Meer den Rücken zuwenden; nie dort entlang gehen, wo der Ozean den Sand bereits nass gemacht hat.“

Sieben Urlauber hat der Nordatlantik am Reynisfjara und am Nachbarstrand Kirkjufjara bereits in den Tod gerissen, seit 2010 der Tourismus nahe dem Fischerdorf Vík boomt. Heute befindet sich hier einer der beliebtesten Reisehotspots an der Ringstraße. Verantwortlich für die Todesfälle sind sogenannte Sneaker- oder Roguewellen, die sich anders als normale Wellen nicht langsam aufbauen, sondern erst nah am Ufer eine oft gewaltige Größe und ein rasendes Tempo entwickeln, sodass sie viel weiter an den Strand schlagen als gewöhnlich. Und das ohne Vorwarnung. Bei Stürmen im Winter donnern die Riesenwellen gelegentlich sogar bis zum mehr als 100 Meter entfernten Parkplatz.

Börkur Hrólfsson, Typ Indiana Jones mit Cowboyhut, kennt die Tücken des Strands seit Jahrzehnten und schont die Urlauber nicht. „Temperaturen im Wasser um den Gefrierpunkt lähmen dein Gehirn. Du wirst immer müder, bis du das Bewusstsein verlierst.“ Wie einige andere Reiseleiter war auch der 68-Jährige bei dem Versuch, Touristen zu retten, die sich zu nah ans Wasser gewagt hatten, in eine dieser Monsterwellen geraten. Hastig rannte er los, schnappte zu beiden Seiten die Hände zweier Teenager, aber plötzlich versanken seine Füße im Sand „wie in Porridge“, so stark war der Sog unter ihm. Im nächs­ten Augenblick verwirbelte die Welt um ihn herum wie in einer Waschmaschine. Trotzdem hatte er Glück, seine zwei Schützlinge und er überlebten. Doch Entsetzen und völlige Hilflosigkeit angesichts der Übermacht der Natur haben sich eingebrannt in Börkur Hrólfssons Gedächtnis. 

Die Südküste sei vollkommen ungeschützt zum offenen Atlantik, wo sich Wellen über Tausende Kilometer ungehindert aufbauen können, erläutert Andreas Macrander vom Institut für Meeres- und Süßwasserforschung in Hafnarfjörður dieses Phänomen. Der Ozeanologe war selbst schon auf zehn Meter hohen Wellen vor der Südküste mit einem Forschungsschiff unterwegs. Am Reynisfjara und Kirkjufjara sorge zudem der stark abfallende Meeresboden für eine besonders hoch schlagende Brandung. Steilufer und starke Strömung wiederum machten es selbst dem besten Schwimmer fast unmöglich, allein wieder an Land zu gelangen.

Das Risiko gefährlicher Wellen ist im Winter, nach starken Winden, am höchsten und im Sommer, bei ruhigem Wasser, geringer. Stets aber lauert die Gefahr. Das ist den Isländern klar, nur fehlt vielen Besuchern der Glaube daran, weil sie selbst solche Wellen nie zuvor am Strand erlebt haben. Und wo sich so viele Touristen tummeln, kann doch kein Unheil passieren? Doch dieser Ort ist anders als alle anderen auf der Welt. Fast wie eine Sinnestäuschung.

Im ersten Moment erscheint das Meer womöglich sanft wie ein See, im nächsten aufbrausend wie ein Ungeheuer. Wo einst glühende Lava auf eisblauen Atlantik traf, haben Stürme, Felsabstürze und tosende Wellen ein sich ständig veränderndes Kunstwerk geschaffen, dramatisch, wild, mystisch. In taghellen Sommernächten umschwirren Tausende Papageitaucher, Eissturmvögel und Möwen schwarz glänzende Basaltsäulen. Als „natürliches Amphitheater“ wird Reynisfjara gepriesen, eingerahmt von Tuffbergen mit Höhlen und mächtigen Felsbögen am benachbarten Kap Dyrhólaey. Vorgelagert sind drei schroff geformte Felsnadeln, die unweit vom Ufer aus dem Meer ragen und der Legende nach versteinerte Trolle verkörpern. Dazwischen liegt kilometerlanger nachtschwarzer Sand, an dem Gischt schneeweiß anbrandet – dort, wo die Nachtwache in der Fantasyserie „Game of Thrones“ stationiert ist und sich Wellen unmerklich anschleichen, bis sie einen Menschen wie mit langen Fangarmen umfassen und hinaus ins Eismeer verschleppen. 


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mare No. 166

mare No. 166Oktober / November 2024

Von Alexandra Cavelius

Schon dreimal hat Autorin Alexandra Cavelius, Jahrgang 1967, den schwarzen Lavastrand Reynisfjara besucht. So faszinierend findet sie die bizarre Schönheit und unberechenbare Gefahr dieses Orts, der Touristen aus aller Welt ­anzieht. Nicht umsonst hat diese finstere Kulisse auch Filmen wie „Game of Thrones“ oder „Stark Trek – Into Darkness“ gedient.

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Vita Schon dreimal hat Autorin Alexandra Cavelius, Jahrgang 1967, den schwarzen Lavastrand Reynisfjara besucht. So faszinierend findet sie die bizarre Schönheit und unberechenbare Gefahr dieses Orts, der Touristen aus aller Welt ­anzieht. Nicht umsonst hat diese finstere Kulisse auch Filmen wie „Game of Thrones“ oder „Stark Trek – Into Darkness“ gedient.
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