Die Wattwohnmuschel

Mit diesem Haus gelingt die Besiedlung des Wattenmeers

Der Besuch kommt heute mit dem Boot. Stößt sich vom Land ab, rudert oder paddelt, macht fest an einem Ding, einer Muschel ähnlich: elliptisch, zehn Meter in der Länge, gut sechs in der Breite. Es ist Schiff und Haus zugleich, mit dem Meeresboden verankert, was die Möglichkeit nicht ausschließt, den Anker zu lichten und sich treiben zu lassen, je nach Wellengang und Windstärke. Eine Wohnstatt – vielleicht auch ein Arbeitsplatz – im Wattenmeer, wo es das eben nicht gibt: dass man hier lebt, wirkt, isst und abends zu Bett geht. Zieht sich das Wasser zurück, legt sich das Gebäude nieder, öffnet seine Schalen und kann zu Fuß betreten werden. Mit der kommenden Flut schließen sich die Schalen, so langsam und beharrlich, wie auch das Wasser steigt. Das Dach wird angehoben, das Innere des Hauses verändert sich. Zusätzliche Bodenplatten fahren aus, sie schaffen eine zweite Ebene.

Ein Haus, bewegt und geformt vom Rhythmus der Gezeiten, von der Kraft des Mondes, von der man weiß, wenigstens theoretisch. Ein Gezeitenhaus, entworfen vom Wiener Architektenbüro Najjar & Najjar. Eine poetische Arbeit ohne konkreten Bauauftrag. Den braucht man nicht, um die Fantasie spielen zu lassen. Es riecht nach Salz, nach Tang, vielleicht nach Moder. Seevögel kreisen und kreischen. Man trinkt im Stehen einen Tee. Und wenn man länger hier wohnt, spürt man genau den Moment, an dem die Flut endet und die Ebbe einsetzt, während der Besuch im Tidenkalender nachschaut, wann er wieder das Boot nehmen kann.

mare No. 35

No. 35Dezember 2002 / Januar 2003

Von Frank Keil

Frank Keil, Jahrgang 1958, lebt und arbeitet in Hamburg.

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Vita Frank Keil, Jahrgang 1958, lebt und arbeitet in Hamburg.
Person Von Frank Keil
Vita Frank Keil, Jahrgang 1958, lebt und arbeitet in Hamburg.
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