Die Volks-Fähre

5000 kretische Fischer, Hirten und Bauern gründen aus Protest gegen marode Fährschiffe eine eigene Reederei. Sicherheitshalber machen sie einen populären Bischof zu deren Chef

Es sind die 1960er-jahre. In Griechenland ist der Aufschwung nach dem Krieg deutlich spürbar. Erstmals trägt die Industrie mehr zum Bruttosozialprodukt bei als die Agrarwirtschaft, an Land werden Häuser und Straßen gebaut, auf See spricht man von den „goldenen Jahren“. Berühmte Reeder wie Aristoteles Onassis oder Stavros Niarchos häufen sagenhafte Vermögen an. 1965 besitzt Griechenland nach Großbritannien die zweitgrößte Handelsflotte der Welt.

Auch in Deutschland geht es bergauf, der Mittelstand geht auf Reisen, im Hafen von Piräus warten Touristen auf Fähren, um unter blauem Himmel die Inselwelt zu erkunden. Am 7. Dezember 1966 aber ist dieser Himmel verfinstert. Windstärke neun ist gemeldet, als die „Heraklion“, eines von 15 Fähr- und Kreuzfahrtschiffen der Reederei Typaldos, den kretischen Hafen von Chania in Richtung Athen verlässt. Das Schiff pflügt mit 14 Knoten durch die Dunkelheit, als nach Mitternacht das Unglück geschieht: Ein unge­sicherter Lkw stößt ein Loch in den Bug. Wasser dringt ein, das Schiff bekommt Schlagseite und kentert. 241 Reisende verlieren ihr Leben, nur 47 werden gerettet. Noch in der Nacht versammeln sich Angehörige im Hafen von Piräus. Als die Sonne aufgeht und aus den Gerüchten Gewissheit wird, ist das Klagegeschrei laut. Auch Bischof Irineos aus Kreta hört es. „Immer wieder riefen sie: ,Wir müssen etwas tun, sonst werden wir noch alle ertrinken!‘“ 

Der Untergang der „Heraklion“ ist nicht der einzige griechische Schiffsuntergang. Wenige Jahre zuvor sind die „Lakonia“ und die „Yarmouth Castle“ gesunken. Dabei sterben insgesamt über 200 Menschen. Das Volk macht profitgierige Reeder für die Katastrophen verantwortlich, die Zeitschrift „Evdomada“ schreibt von „schwimmenden Särgen“. 

Die empörten Kreter gehen auf die Straße. In der Nacht des 8. Dezember ist dieser Protest so lärmend, dass Kostas Archontakis, ein leitender Angestellter der griechischen ATE-Bank, sich schlaflos im Bett wälzt. Mitten in der Nacht steht er auf und bringt seine Gedanken auf fünf Kalenderblättern zu Papier. Die Kalenderblätter sind der erste Entwurf für eine Reederei auf der Basis von Volksaktien.  

Schiffe, so Archontakis’ Kerngedanke, seien nur sicher, wenn sie auch denen gehören, die auf ihnen reisen. Deshalb sollten nur aus Kreta stammende Klein­aktionäre Anteile erwerben können und eine Genossenschaft zur Bildung einer eigenen Reederei gründen. In seinem Studienkollegen Jannis Tzamarioudakis, Vorsitzender eines Verbands von Finanzwissenschaftlern aus Chania, findet Archon­takis einen Verbündeten.

Schnell arbeiten die beiden das Konzept aus. Am 21. Dezember treffen Vertreter aus Politik, Kirche und Wirtschaft sowie interessierte Bürger im Rathaus von Chania zusammen. „Jeder, der daran interessiert ist, ein Schiff zu kaufen und eine neue Schiffsgesellschaft zu gründen, ist willkommen“, heißt es in einem Aufruf. Das Interesse ist gewaltig, 500 Menschen drängen in den Saal. Auf den Bildern, die am nächsten Tag in den Zeitungen zu sehen sind, steht jedoch kein Krawattenträger im Zentrum, sondern ein Mann im Ordens­gewand: Irineos Galanakis, Bischof von Kastelli [Kissamos, die Red.] und Selino. 

Archontakis und Tzamarioudakis haben die künftige Galionsfigur ihrer Reederei, die ANEK Lines, ins Boot geholt, weil sie ahnen, dass sie ohne Gottes Segen auf einer Insel, auf der die gläubigen Christen so stark sind wie die gläubigen Kommunisten, nichts erreichen würden. 

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mare No. 153

mare No. 153August / September 2022

Von Hans W. Korfmann

Hans W. Korfmann, Jahrgang 1956, freier Autor, lebte früher auf Kreta und in Athen. Heute ist er Heraus­geber der „Kreuzberger Chronik“ in Berlin.

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