Die Untoten vom Strand

Wenn es diesen Tierchen ungemütlich wird, halten sie ihr Leben an. Forscher wollen nun ihr Geheimnis langen Lebens lüften

Bärtierchen. Schon einmal gehört? Nein? Macht nichts. Auf ihnen gesessen haben Sie bestimmt schon, am Strand. Angenommen, Sie greifen mit der Hand tief in den Sand, dann kann es sein, dass Sie gleich etliche Bärtierchen hochholen. Da säßen sie dann, die winzigen Wirbellosen, die in ihrer pummeligen Körperform an Bären erinnern, aber mindestens doppelt so viele Beine haben wie ein herkömmlicher Landbär. Statt einer richtigen Schnauze haben sie einen Mundkranz aus Zähnchen, gesäumt von zwei spitzen Klingen, den Stiletten. An den Enden der Beine sitzen Krallen.

Aber ehrlich gesagt, bräuchte man für solche Betrachtungen ein Mikroskop. Denn Bärtierchen sind gerade einmal knapp einen Millimeter groß. Das ist auch der Grund, warum sie sich dem menschlichen Blick so lange entzogen haben. Der Quedlinburger Pastor Johann August Ephraim Goeze war der Erste, der die seltsamen Geschöpfe, 1773, offiziell beschrieb. Er taufte sie „kleine Wasserbären“. Der italienische Naturforscher Lazzaro Spallanzani ließ sich einige Jahre später von den behäbigen Bewegungen der Tiere inspirieren und gab ihnen den Namen, den sie in der internationalen Fachwelt heute noch tragen: Tardigrada, die „Langsamschreiter“ (von lat.: tardus, langsam, und gradi, schreiten). Im deutschen Sprachraum heißen sie schlicht: Bärtierchen.

Bärtierchen gibt es nahezu überall auf der Welt, in den Tiefen der Ozeane, an den Küsten, im Landesinneren. Hauptsache, es ist ein bisschen Wasser vorhanden, ob in der Wüste oder in den Bergen. Rund 1000 Arten von Minibären haben die Forscher bislang gefunden, etwa 300 davon sind Meerbärchen. Zwischen den Sandkörnern in der Gezeitenzone wandert beispielsweise Batillipes mirus mit einer Geschwindigkeit von 36 Zentimetern je Stunde umher. Anstelle der obligatorischen Krallen trägt der wundersame Schaufelfüßler Haftscheiben an den Beinen. Bei starker Strömung saugt er sich an den Sandkörnern fest und schützt sich so vor dem Verdriften. Andere Bärtierchen haben sich im Lauf der Evolution darauf eingestellt, sich den Strömungen hinzugeben. Styraconyx sargassi treibt als Nichtschwimmer auf Braunalgen über den offenen Ozean. „Man hat sogar in den Manganknollen auf dem Boden der Tiefsee Bärtierchen gefunden“, sagt Professor Reinhardt Møbjerg Kristensen, Bärtierchenexperte an der Universität Kopenhagen. „Sie ernähren sich von den Bakterien, die sie dort finden.“ Schwimmende Meerbärchen gibt es ebenfalls. Sie haben ihren Körper so umgestaltet, dass sie von Weitem wie kleine Medusen aussehen. „Erst wenn man näher herankommt, sieht man, dass es Bärtierchen sind“, weiß der dänische Biologe.

Kristensen gehört zu den wenigen Tardigradologen, die sich der Erkundung der marinen Formen verschrieben haben. Allzu viele Bärtierchenforscher gibt es ohnehin nicht, weltweit etwa 80 – eine Gruppe engagierter Wissenschaftler, denen es an Forschungsgeldern mangelt. Wozu soll es gut sein, fragen manche, das Wissen von den hübschen, meist durchsichtigen Miniaturbären, die je nach Nahrung, ob Alge oder Seegurke, grün oder rot schimmern können, fast wie Gummibärchen?

Doch das Blatt beginnt sich zu wenden. Bärtierchen verfügen über unglaubliche Fähigkeiten, die die Forscher erst jetzt zu enträtseln beginnen. Wird es den Winzlingen nämlich zu heiß, zu kalt, zu trocken oder zu salzig, fahren sie ihre Lebensfunktionen auf null herunter. Nichts rührt sich mehr, kein Beinchen, kein Enzym. Wissenschaftler nennen diesen Vorgang „Kryptobiose“. Es ist ein merkwürdiger Zustand zwischen Leben und Tod, ein Leben auf Abruf, ein Tod auf Zeit. Und der kann so lange dauern, bis die Zeiten wieder besser geworden sind. Ein paar Stunden, Tage, Jahre, Jahrzehnte – dann wachen die kleinen Körper auf, und das Leben geht weiter, als sei nichts gewesen. Selbst ihre Fortpflanzungsfähigkeit leidet nicht unter der biologischen Auszeit.

Allerdings, das darf man nicht verschweigen, gibt es bei dieser Prozedur auch einen gewissen Ausschuss. Ein Bruchteil der Bärchen findet nicht wieder ins Leben zurück. Diese Tatsache veranlasste den englischen Tardigradenforscher Jonathan Crowe 1975 zu der Frage: „Heißt das, sie starben, während sie tot waren?“

Was schiefgelaufen ist, wenn die Bärtierchen die Grenze zwischen dem vorübergehenden und dem endgültigen Tod überschreiten, lässt sich nur schwer feststellen. Ansehen kann man einem ausgetrockneten Bärtierchen jedenfalls nicht, wie weit es sich bereits aus dem Leben entfernt hat. Da hilft nur eines: mit Wasser benetzen und abwarten. Trotz aller Risiken – das Prinzip der Kryptobiose bewährt sich. Bärtierchen können ihr Leben nicht nur einmal, sondern gleich mehrfach anhalten.

Zu den Tardigraden, die sich mit dieser Strategie tagtäglich das Überleben zu sichern versuchen, gehört Echiniscoides sigismundi. Das Meerbärchen ist ein Bewohner der Gezeitenzonen und häufig auf den Schalen von Seepocken zu finden. Solange das Wasser hoch steht, ist es in seinem Element. Anders bei Ebbe. Während die Seepocken die Deckel ihres Kalkhäuschens zuklappen, um sich gegen die Austrocknung zu schützen, zieht es den Bärtierchen das Wasser vom zarten Leib. Retten können sie sich nur, indem sie bis zur nächsten Flut in eine Art Trockenstarre fallen. Die auf dem Land lebenden Minibären bringen es in dieser Technik zu wahrer Perfektion: Saftige Bärtierchen mit einem Wassergehalt von rund 85 Prozent verschrumpeln bei Dürre zu hutzeligen, braunen Tönnchen, leichter als ein Sandkorn, die der Wind mit Leichtigkeit hinwegzutragen vermag und die nur noch zu zwei Prozent aus Wasser bestehen.


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mare No. 67

No. 67April / Mai 2008

Von Ute Schmidt

Die Solinger Wissenschaftsjournalistin Ute Schmidt, Jahrgang 1966, hält die Bärtierchen für völlig unterschätzt. Die kleinen Wesen kamen in ihrem Biologiestudium kaum vor – leider. Umso schöner, dass die Wissenschaft endlich genauer hinschaut.

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Vita Die Solinger Wissenschaftsjournalistin Ute Schmidt, Jahrgang 1966, hält die Bärtierchen für völlig unterschätzt. Die kleinen Wesen kamen in ihrem Biologiestudium kaum vor – leider. Umso schöner, dass die Wissenschaft endlich genauer hinschaut.
Person Von Ute Schmidt
Vita Die Solinger Wissenschaftsjournalistin Ute Schmidt, Jahrgang 1966, hält die Bärtierchen für völlig unterschätzt. Die kleinen Wesen kamen in ihrem Biologiestudium kaum vor – leider. Umso schöner, dass die Wissenschaft endlich genauer hinschaut.
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