Die Tränke der wilden Tiere

Sonne, Strand, Flat-rate-Saufen – das ist Benidorm. Doch die Liebe der Urlauber zu ihrem „Beniyork“ hat tiefere Gründe

Es war einmal eine Zeit, da gab es weder Arbeit noch Urlaub. Nur Menschen und Tiere, die ums Überleben konkurrierten und sich dazu den entscheidenden Standortvorteil verschaffen mussten. Wer fällt wem von wo aus in den Rücken? Das war eine Frage von existenzieller Bedeutung. So ging aus der Alternative von Fressen oder Gefressenwerden jener Sehnsuchtsort hervor, der bis heute den Gipfel von Annehmlichkeit und Luxus repräsentiert: Hanglage mit Seeblick. Den schützenden Berg im Rücken, hält der Jäger den Blick auf das unter ihm liegende Ufer gerichtet.

Eine privilegierte Position – erlaubt sie doch, das zur Tränke ziehende Wild genau in dem Moment zu erlegen, wo es, seinerseits nach hinten schutzlos, den Kopf zum Wasser neigt. Die Evolutionsbiologie bezeichnet diese strategische Wahl eines geeigneten Wohnorts mit dem Ausdruck Habitatselektion. Man braucht aber im Grunde kaum etwas über die Fundorte prähistorischer Waffen und Werkzeuge zu wissen, um sich von dieser These auch als Laie überzeugen zu lassen. Schließlich bietet sie eine schlüssige Erklärung dafür, warum diese idealtypische Kombination von Deckung und Ausblick so beliebt ist – warum also der Mensch so gern am Hang wohnt und von dort so gern aufs Wasser schaut.

Dass das so ist, kann jeder Makler und Tourismusmanager bestätigen. Jagdgründe sind zu Ferienzielen geworden, Überlebenstechniken zum Luxus; und weil am Ufer nun auch das Wild ausbleibt, schweift der Blick übers Wasser bis zum Horizont, wo bestenfalls die Sonne untergeht. Das ist die absichtslose Sehnsucht der Strandtouristen und das grundlose Glücksversprechen der Reisebüros. Um die Geschichte der berühmtesten Ferienorte zu verstehen, darf hier allerdings ein historischer Zwischenschritt nicht übersprungen werden: die zumeist mythisch verklärte Frühgeschichte des Fischerdorfs. Denn so unterschiedlich sich Orte allein am Mittelmeer entwickelt haben – zur Bettenburg oder Luxusidylle – und so sehr sich daher Saint-Tropez von Torremolinos und Portofino von Benidorm unterscheidet: Alle haben sich jenes Goldene Zeitalter ins Wappen geschrieben, in dem die Urväter auf Booten hinausfuhren, um ihre Netze auszuwerfen.

Das Meer, das seine Früchte stets gratis und im Überfluss bereithielt, steht dabei für ein vergangenes All-inclusive-Paradies, von dem auch das üppigste Hotelbuffet nur noch einen matten Abglanz aufscheinen lässt. Der größte Luxus imitiert das einfache Leben, und von ferne grüßen stets die Caprifischer. Im noblen Portofino oder anderswo scheint es aber heute beinahe so, als verliefe die Fischerei in umgekehrter Richtung. Wenn die dicken Fische des internationalen Finanzadels ihre Dreimaster in die beschauliche Bucht steuern, dann tun sie das, um an Land auf Fang zu gehen; in miniaturisierten Flagship-Stores von Brioni und Prada, die in ehemaligen Fischerhäuschen untergebracht sind.

Ähnlich paradox ist es, wenn die Gäste des 52-geschossigen „Gran Hotel Bali“ in Benidorm – es ist mit 186 Metern das höchste Gebäude Spaniens und zugleich das höchste Hotel Europas – sich dadurch geerdet fühlen, dass sich zu ihren Füßen einmal ein lauschiges Fischerdorf befunden haben soll. Mit Männern, die ihren Familien abends den fangfrischen Fisch auf den Tisch gebracht haben mögen. Tatsächlich aber waren die Fischer von Benidorm im 18. Jahrhundert als Nomaden der Weltmeere berühmt. Sie brachen von der Costa Blanca nach Nordspanien, in den Atlantik und sogar nach Südamerika auf, um mit ausgefeilten Fangmethoden Tunfisch auf hoher See zu jagen.

Eine Flugreise von Großbritannien nach Benidorm ist nichts dagegen, und so führen die Touristen von heute wohl eine weitaus weniger nomadische Existenz als ihre vermeintlich so ortsfixierten Vorgänger. Vom Gegenteil auszugehen hieße aber, das Wesen des modernen Massentourismus zu verkennen. Ein Urlaub in Benidorm unterscheidet sich nämlich dadurch von der grand tour, dass es weniger um die Reise geht als ums Ankommen. Der Weg ist hier nicht das Ziel; touristische Habitatselektion bedeutet vielmehr, einen annähernd idealen Ort, das heißt einen Ort mit Paradiescharakter zu finden, und dann dort zu verharren. So stehen Ausflüge ins Umland von Benidorm nur ausnahmsweise an.

Die Berglandschaften im Hinterland erscheinen weniger attraktiv als die Tivolis der Stadt; etwa „Terra Mítica“, eine Riesenkirmes, die die Erzählungen der griechisch-römischen Antike in Form von Karussellen und Achterbahnen vergegenwärtigt, oder der „Terra Natura“, ein kürzlich eröffneter Erlebniszoo, in dem es Sumatratiger und Riesenskorpione zu bewundern gibt. Worauf es aber vor allem ankommt, ist das Hotel selbst: die Ausstattung der Apartments, der Pool, das Buffet, das Animationsprogramm. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum die Wiege des mediterranen Massentourismus nicht in Italien, sondern in Spanien steht: Nordeuropäer orientieren sich von jeher nach Italien, wenn es um die Adaption kultureller Werte geht – von der Musik, der Mode, dem Design bis zur Küche. Das aber ist mit einer Anstrengung verbunden, die es nahezu unmöglich macht, den historischen und kulturellen Kontext des Urlaubsorts auszublenden.


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mare No. 66

No. 66Februar / März 2008

Von Ronald Düker

Ronald Düker ist Kulturwissenschaftler und Journalist und lebt in Berlin. Auch wenn er ein großer Freund der literarischen Apokalypsen J. G. Ballards ist – er möchte seinen Lebensabend aber keinesfalls in einer gated community verleben. Die Costa Blanca hat er vor allem von der Autobahn aus gesehen.

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Vita Ronald Düker ist Kulturwissenschaftler und Journalist und lebt in Berlin. Auch wenn er ein großer Freund der literarischen Apokalypsen J. G. Ballards ist – er möchte seinen Lebensabend aber keinesfalls in einer gated community verleben. Die Costa Blanca hat er vor allem von der Autobahn aus gesehen.
Person Von Ronald Düker
Vita Ronald Düker ist Kulturwissenschaftler und Journalist und lebt in Berlin. Auch wenn er ein großer Freund der literarischen Apokalypsen J. G. Ballards ist – er möchte seinen Lebensabend aber keinesfalls in einer gated community verleben. Die Costa Blanca hat er vor allem von der Autobahn aus gesehen.
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