„Die ‚Titanic‘ wird untergehen!“

Romane, die das große Unglück „vorhersahen“

Das folgende könnte das Drehbuch für einen seltsam bekannten Untergang abgeben:

Es geschah kurz vor Mitternacht. Gerade konnte der Ausguck noch schreien: „Eis, Eis voraus. Eisberg.“ Aber zu spät. Das größte und luxuriöseste Schiff der Welt rammt den Eisberg und geht unter, obwohl es als unsinkbar gilt. „Inmitten des Brausens von entweichendem Dampf, der Todesschreie von fast 3000 menschlichen Stimmen und des Pfeifens, als die Luft vor dem hereinströmenden Wasser durch hunderte von Luken entweicht“, gleitet das Schiff langsam rückwärts ins Meer – „ein sterbendes Monster, stöhnend vor Schmerz von seiner tödlichen Wunde.“ Die Zahl der Rettungsboote genügt zwar den gesetzlichen Vorschriften, aber das ist zuwenig. In jener Aprilnacht ertrinken Tausende im kalten Wasser des Nordatlantiks . . .

Soweit das Szenario. Doch es handelte sich nicht um die berühmteste aller Schiffskatastrophen. Der Name des unsinkbaren Schiffes: „Titan“. Das hier geschilderte Unglück ist nie wirklich passiert, es entsprang der Phantasie des amerikanischen Schriftstellers Morgan Robertson (1861–1915). Erstaunlich nur, dass Robertsons Roman „Futility“ bereits 1898 erschien, also vierzehn Jahre vor dem Untergang der „Titanic“. Hatte Robertson das Unglück vorausgeahnt? Das behaupten seitdem immer wieder die Verfechter übersinnlicher Fähigkeiten.

Die Parallelen zwischen der wahren „Titanic“ und der erfundenen „Titan“ gehen noch weiter: Beide Schiffe waren komplett aus Stahl, mit je drei Propellern, fassten etwa 3000 Menschen und schrammten den Eisberg auf der Steuerbordseite. Das Unglück ereignete sich jeweils im Nordatlantik einige hundert Meilen vor Neufundland.

Die „Titan“ ist mit einer Länge von 240 Meter etwas kürzer als die „Titanic“, hat dafür aber mehr wasserdichte Schotten. Die Bruttotonnage der „Titan“ beträgt 45000 Tonnen gegenüber rund 46000 für die „Titanic“. Beide Schiffe waren auf der gleichen Route unterwegs: Die „Titanic“ von England nach New York, die „Titan“ von New York nach England.

Hatte Robertson schon im Jahr 1898 eine Vision gehabt, einen Traum, eine göttliche Eingebung? Dazu passte gut, dass er selbst als Esoteriker geschildert wird, bestens geeignet als übersinnliches Medium. Er behauptete, im Kontakt mit der Seele eines Toten im Weltraum zu stehen. Per Telepathie empfange er Signale aus einer Welt, in der Vergangenheit und Zukunft eins seien. Diese Signale schreibe er dann nieder. Seither gilt die „Titan“ als einer der schlagendsten Beweise für die Gabe der Prophetie, des Lesens in der Zukunft; kaum ein Buch aus der Ecke „Mysterien dieser Welt“, das diese Begebenheit auslässt.

Anderen erscheint Robertsons Story schlicht als Seemannsgarn. War es denn prophetisch, anzunehmen, dass ein Schiff mit einem Eisberg zusammenstößt? Nachdem die Schiffe so groß geworden waren, dass sie auch von Orkanen kaum mehr gefährdet werden konnten, kam fast nur noch die Kollision mit einem anderen Schiff oder einem Eisberg als Ursache eines plötzlichen Untergangs in Betracht. Tatsächlich kollidiert die „Titan“ auf ihrer letzten Fahrt zunächst mit einem anderen Schiff. Das ist aber so viel kleiner, dass die „Titan“ es einfach entzweischneidet, ohne selbst Schaden zu nehmen. Ein böses Omen!

Auf der damals am häufigsten befahrenen Schifffahrtsroute der Welt zwischen New York und England bestand im April höchste Gefahr, auf Eisberge zu treffen. Im Frühjahr brechen die Eisberge vom grönländischen Eisschild ab und driften mit dem kalten Labradorstrom südwärts. Im April ist das Wasser dabei noch kalt genug, um die Eisberge ungeschmolzen bis in die Nähe Neufundlands zu bringen. Folglich legte Robertson das Unglück in den April, und Nacht musste es natürlich sein, damit man den Eisberg erst sehen konnte, wenn es bereits zu spät war.


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mare No. 8

No. 8Juni / Juli 1998

Von Curt Schneider

Curt Schneider ist freier Journalist in München. Seit 1990 arbeitet er regelmäßig für das SZ-Magazin.

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Vita Curt Schneider ist freier Journalist in München. Seit 1990 arbeitet er regelmäßig für das SZ-Magazin.
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