Die Taucherinnen

Ohne Neoprenanzug und Pressluft ernten die Frauen vom Volk der Ama am Meeresgrund Schnecken

Sommer 1954, Insel Hekura, Japan. Vor einem Jahrzehnt war Fosco Maraini in Japan in einem Internierungslager inhaftiert, jetzt bereist er dieses Land als freier Mann. Er ist 42 Jahre alt, Fotograf, Anthropologe, Schriftsteller, Naturwissenschaftler, einer dieser Allrounder, die früh gefordert und gefördert wurden und aus ihrem familiären kulturellen Erbe etwas zu machen wissen.

1939 kam er dank eines Stipendiums samt Frau und drei Töchtern von Florenz nach Saporo, dieses Mal reist er mit Freunden. Wie damals ist es vor allem seine anthropologische Neugier, die ihn antreibt. Ziel seiner Reise: die Insel Hekura, auf der die sagenumwobene Volksgruppe Ama vom Tauchen nach den kostbaren Abalone-Schnecken lebt. Das Besondere an den Ama: ihre angeblich magische Verbundenheit mit dem Meer und die Tatsache, dass es die Frauen sind, die tauchen. Dass sie nackt – oder zumindest beinahe nackt – arbeiten, fasziniert nicht nur Maraini. Die Taucherinnen auf der nur schwer zugänglichen Insel Hekura sind nämlich schon seine zweite Anlaufstelle. Davor war er auf der Halbinsel Boso, wo ebenfalls Ama leben. Die Mädchen enttäuschten ihn, im Winter machten sie „praktischen Gebrauch von ihrer nudistischen Tradition und traten in einem berühmten Stripteaselokal“ in Tokio auf. Nicht so die Frauen von Hekura.

Deren Nacktheit ist eine ganz unbefangene. Auf Hekura gibt es 1954 noch nicht einmal elektrisches Licht, das Essen ist schlicht, die Lebensumstände sind einfach, gewohnt wird in Holzbaracken, die Bewohner leben in einem „beständigen Zustand annähernder Nacktheit“. Die Männer sind während der Sommermonate mit großen Motorkuttern tagelang auf dem Meer unterwegs. Fosco Maraini verbringt seine Zeit also vorwiegend unter Kindern, Greisen und Frauen. Er genießt es.

Er taucht mit den Frauen und fotografiert sie während ihrer Arbeit. Frühmorgens versammeln sich die Mädchen und Frauen und fahren mit kleinen Booten zu den Tauchplätzen in der Nähe der Felsküsten. Sie ziehen sich aus und springen ins Wasser. Die meisten bleiben rund eine Minute unter Wasser. In einer Tiefe von acht bis zehn Metern tasten sie den felsigen Meeresgrund ab, und mit einem gebogenen Eisenstück lösen sie die Abalone-Schnecke von dem steinigen Untergrund.

Maraini wundert sich, warum keine Männer tauchen. Die Antwort ist klar: Frauen mache die Kälte weniger aus, die haben „eine Speckhülle, wie Seehunde“. Der alte Hirosaki muss es wissen, er ist der Chef der Taucherinnen. „Sie können ihren Atem länger anhalten – und sie sind gelassener.“

Marainis Arbeit über die Ama ist ein entscheidender Baustein seiner fotografischen Karriere; ein anderer werden die Bilder von zwei ausgiebigen Tibetreisen vor der chinesischen Annexion, der kulturwissenschaftlich wichtigste sind die Bilder über die Ainu, ein fast gänzlich verschwundenes Volk in Japan, das er 1939 studierte. All diese Serien sind heute von großem Interesse, weil sie Kulturen zeigen, die sich in kurzer Zeit stark verändert haben. Auf Hekura tauchen heute zwar noch immer Mädchen und Frauen. Allerdings mit Tauchanzügen und Pressluftflaschen – oder in einer inszenierten Show für Touristen.

Fosco Marainis Liebe zu Asien und speziell zu Japan bleibt trotz der Jahre zwischen 1942 und 1945 als Zivil-Internierter erhalten und vertieft sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr. Der bald 90-Jährige baut sich eine umfangreiche Bibliothek in seinem Haus in Florenz auf, unterrichtete an italienischen und englischen Universitäten und stellt etwas dar, was es heute kaum noch gibt: einen Universalgelehrten. Zora del Buono

mare No. 27

No. 27August / September 2001

Fotos von Fosco Maraini

Fosco Maraini, Jahrgang 1942, wuchs in Lugano und Florenz als Sohn eines Künstlerpaars auf. Seine Leidenschaft galt den Bergen, der Fotografie und fernen Kulturen, 1939 erhielt er ein Stipendium für Studien in Japan, die reportage über die „Ama" entstand 1957. Die Zitate stammen aus seinem Buch Der frühe Tag: Asienfotos (Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 1992, vergriffen). Fosco Maraini lebt heute in Florenz.

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Vita Fosco Maraini, Jahrgang 1942, wuchs in Lugano und Florenz als Sohn eines Künstlerpaars auf. Seine Leidenschaft galt den Bergen, der Fotografie und fernen Kulturen, 1939 erhielt er ein Stipendium für Studien in Japan, die reportage über die „Ama" entstand 1957. Die Zitate stammen aus seinem Buch Der frühe Tag: Asienfotos (Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 1992, vergriffen). Fosco Maraini lebt heute in Florenz.
Person Fotos von Fosco Maraini
Vita Fosco Maraini, Jahrgang 1942, wuchs in Lugano und Florenz als Sohn eines Künstlerpaars auf. Seine Leidenschaft galt den Bergen, der Fotografie und fernen Kulturen, 1939 erhielt er ein Stipendium für Studien in Japan, die reportage über die „Ama" entstand 1957. Die Zitate stammen aus seinem Buch Der frühe Tag: Asienfotos (Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 1992, vergriffen). Fosco Maraini lebt heute in Florenz.
Person Fotos von Fosco Maraini