Die stets am Abgrund tanzende

Manche nannten sie die „berühmteste Puffmutter der Ägäis“. Wer war die Frau, die als „Madame Hortense“ in Nikos Kazantzakis’ Roman­ „Alexis Sorbas“ Weltruhm erlangte, wirklich?

Vor 80 Jahren, am 2. Mai 1938, stirbt auf Kreta an der Küste des Libyschen Meeres eine Französin. Die Katholikin wird auf dem griechisch-orthodoxen Friedhof von Ierapetra zwischen blühendem Klatschmohn begraben. Auf dem Heimweg beginnt die kleine Trauergemeinde über die verschiedenen Versionen ihrer Lebensgeschichte zu streiten. Von einer „Tänzerin“ ist die Rede, andere sprechen von „einer Frau eines französischen Admirals“, manche nennen sie die „berühmteste Puffmutter der Ägais“, und nicht wenige kennen sie nur als „liebenswerte Nachbarin“. Wer war die Frau, die als „Madame Hortense“ in Kazantzakis’ -Roman „Alexis Sorbas“ Weltruhm erlangte, von der es hieß, sie habe an Kretas Geschichte mitgeschrieben, und von der man am Ende dennoch so wenig wusste, dass die Bezirksbeamten von Ierapetra auf ihrer Sterbeurkunde voller Ratlosigkeit in die Zeile „Geburtsort: Marseille, vielleicht auch Paris oder Perpignan“ schrieben?

Das Wenige, das man weiß, stammt aus den Memoiren des Augenarztes Jorgos H. Pangalos, dem die Französin eines Nachmittags ihr Leben erzählte. Seine Notizen sind vermutlich die einzigen überlieferten Worte der Adéline Guitar. Die Geschichte, die sie dem Augenarzt erzählt, beginnt in einem Friseursalon in Marseille. Es ist der Salon des Monsieur Guitar, zu dessen Kundschaft auch ein alter Admiral gehörte, der niemanden an seinen Bart ließ außer Adélines Vater. Wie damals üblich, musste die Tochter im Geschäft aushelfen, und da sie hübsch war, verliebte sich schnell ein junger Arzt in das 15-jährige Mädchen. Ein Jahr später war es ein heißblütiger Korse, der damit drohte, Adéline umzubringen, falls sie sich noch einmal beim Frisieren von den Männern berühren lasse. Kichernd gesteht sie dem Augenarzt: „Wenn mir einer einen Franc zusteckte, durfte er mich anfassen.“

Eines Tages erschien Adéline zum Hausbesuch beim Admiral. Sie war fasziniert von dem großen Haus mit der Köchin, auch der stattliche Bart des Seefahrers imponierte ihr. Was auch immer damals geschah, der Tag des Hausbesuchs war jener Tag, an dem Admiral Pottier sie fragte: „Darf ich dich Hortensie nennen? Das ist eine schöne Blume.“ „Warum nicht?“, sagte Adéline und hob gleichgültig die Schultern – nicht ahnend, dass dieser Name sie berühmt machen würde.

Als Pottier mit seiner „Amiral Charner“ nach Kreta auslaufen musste, bot er ihr an, ihn zu begleiten. „Ach, wie verliebt war ich in meinen schönen Admiral! Er wollte mir Geld geben, und ich sollte mit all seinen Möbeln und Teppichen nachkommen. Und er wollte eines der schönsten Häuser im Hafen von Chania für mich mieten.“ So erzählt sie es dem Augenarzt.

Sicher ist, dass Pottier tatsächlich ein vornehmes Haus im Hafen von Chania für sie mietete. Und dass dieses Haus mit seinen französischen Möbeln und den vielen Gerüchten, die aus ihm drangen, zu einer berühmten Adresse wurde. „Wenn die Offiziere nicht auf ihren Schiffen waren, dann waren sie bei mir. Es gab eine Bar, einen Billardtisch, einen Salon und Kisten voller Champagner, Whisky, Cognac.“ Und es gab „Madelaine aus Lyon, Carolina aus Italien, Frida aus Ungarn und die schöne Negerin aus Gaza. Unsere Tableaux vivants [„lebende Gemälde“; die Red.] waren himmlisch, die Männer tobten, wenn wir auf dem Billardtisch Cancan tanzten“.

Adéline Guitar war 34 Jahre alt. Es heißt, dass sie fünf Sprachen beherrschte und die geheimsten Wünsche auch fremdländischer Männer erfüllen konnte. Die Seefahrer überhäuften sie vor Lust und Dankbarkeit mit Geschenken, das Haus wurde zum Palast mit Lüstern, Spiegeln, silbernem Besteck und Teppichen aus aller Welt. Abend für Abend tranken Italiener, Russen, Franzosen und Engländer friedlich vereint „den Champagner aus meinen Schuhen“. Die Madame hatte die vier Großmächte auf ihrem Schoß, voller Stolz lässt Kazantzakis sie erzählen: „Ich packte sie an den Bärten und flehte sie an, die armen guten Kreter nicht zu bombardieren. Wie oft habe ich die Kreter vor dem Tod gerettet! Wie oft waren die Kanonen schussbereit, und ich packte den Admiral am Bart, und es war wieder nichts mit dem Bambam … Und wer hat mir dafür gedankt? Ich warte noch heute auf einen Orden.“

Ein Jahr lang lagen die Flotten vor Kreta. Die Insel zwischen Afrika, Asien und Europa war ein wichtiger Handelsstützpunkt und ein alter Zankapfel. Um ein

Eskalieren der Unruhen zwischen Türken und Griechen zu verhindern, hatten die Europäer die Insel einer internationalen Schutztruppe unterstellt – nicht ohne einander argwöhnisch zu beobachten. Niemand sollte die Vorherrschaft erlangen. Erst, als am 9. Dezember 1898 Prinz Georg von Griechenland auf Kreta eintraf und die Rolle des „Hochkommissars“ übernahm, hissten die Besatzungsmächte ihre Segel. Adéline Guitar stand am Hafen und sah die „Amiral Charner“ am Horizont verschwinden. „Ich habe eine Woche lang geweint“, gesteht sie dem Augenarzt, der auch die Abschiedsworte Pottiers für die Nachwelt festhält: „Meine Liebe, ich muss fort, aber ich kann dich nicht mitnehmen. Dort, wo ich hinfahre, können wir so nicht weiterleben. Behalte alle Möbel, alles, was im Haus ist, und lebe wohl!“


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mare No. 129

August / September 2018

Von Hans W. Korfmann und Inga Lankenau

Hans W. Korfmann, geboren 1956 in Bochum, ist seit 1998 Herausgeber des Berliner Stadtteilmagazins Kreuzberger Chronik. Er schrieb für die FAZ, die Frankfurter Rundschau und die ZEIT, bevor er 2006 mit einer Geschichte über James Cook bei mare auftauchte.

Inga Lankenau, Jahrgang 1984, freie Illustratorin in Hamburg, hat ein altes Holzsegelboot in der Dove-Elbe liegen, auf dem sie ein Jahr gelebt hat. Ob sie damit einmal nach Kreta segeln wird, ist offen.

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Vita Hans W. Korfmann, geboren 1956 in Bochum, ist seit 1998 Herausgeber des Berliner Stadtteilmagazins Kreuzberger Chronik. Er schrieb für die FAZ, die Frankfurter Rundschau und die ZEIT, bevor er 2006 mit einer Geschichte über James Cook bei mare auftauchte.

Inga Lankenau, Jahrgang 1984, freie Illustratorin in Hamburg, hat ein altes Holzsegelboot in der Dove-Elbe liegen, auf dem sie ein Jahr gelebt hat. Ob sie damit einmal nach Kreta segeln wird, ist offen.
Person Von Hans W. Korfmann und Inga Lankenau
Vita Hans W. Korfmann, geboren 1956 in Bochum, ist seit 1998 Herausgeber des Berliner Stadtteilmagazins Kreuzberger Chronik. Er schrieb für die FAZ, die Frankfurter Rundschau und die ZEIT, bevor er 2006 mit einer Geschichte über James Cook bei mare auftauchte.

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