Die Sternenguckersardinen

Eine Geschichte, die weihnachtlicher nicht sein kann: Wie Fische in einem südenglischen Küstendorf zu den Hauptfiguren einer allseits beliebten Pie wurden

Der Sturm kannte kein Ende und kein Erbarmen und der Held keine Furcht, so viel steht fest. Wann genau der Fischer Tom Bawcock mit seiner Tat einem ganzen Dorf das Leben rettete, weiß niemand, aber warum eine Heldengeschichte mit Fakten beschweren?

Jeden Winter seit Menschengedenken ziehen die Stürme vom Atlantik über Mousehole an der Westspitze Cornwalls, wo sich über dem winzigen Hafen granitgraue Häuser hügelaufwärts drängen. In einem Dezember vor ein paar hundert Jahren konnten die Fischerboote des Dorfes wochenlang nicht auslaufen, ganz Mousehole drohte der Hungertod. Bis sich am Tag vor Heiligabend der alte Tom Bawcock mitten im Sturm hinauswagte und zurückkehrte mit einem Fang, der reichte, um das ganze Dorf zu speisen, Aale, Heringe, Makrelen, sieben Sorten Fisch. Zu einer einzigen riesigen Pastete buk man den Fischsegen, aus deren Kruste die Sardinen ihre Köpfe himmelwärts reckten wie zum Beweis des Wunders. Der Sternenguckersardinen wegen taufte man den Fischkuchen „Stargazy Pie“.

Bis heute begeht Mousehole an jedem 23. Dezember den Tom Bawcock’s Eve, einen Abend der Legende zu Ehren. Mit einem Laternenumzug durch die engen, gewundenen Straßen, deretwegen der Dichter Dylan Thomas, der hier Ende der 1930er seine Flitterwochen vertrank, Mousehole das hübscheste Dorf in ganz England nannte. Und mit Stargazy Pie, aufgetischt im „Ship Inn“, Mouseholes einzigem Pub unten am Pier.

Dem Pastetenwunder zollt das Dorf mit einer in ganz England berühmten Weihnachtsbeleuchtung Tribut. Aus dem Hafenbecken tauchen glitzernd Wal und See- ungeheuer neben Rentieren und Tannen- bäumen auf. Von der kleinen Felseninsel St Clement’s Isle hinter der Hafenausfahrt leuchtet meterhoch ein Kreuz in die Nacht und an der Kaimauer vor dem „Ship Inn“ ein Stargazy Pie samt tanzenden Sardinen.

Am vorletzten Wochenende vor Weihnachten schaltet Mousehole die Lichter an und lässt sie leuchten bis in den Januar. Nur am 19. Dezember, zwischen acht und neun abends, erlöschen sie jedes Jahr zum Gedenken an eine Winternacht vor drei Jahrzehnten, als Meer und Himmel kein Wunder bereithielten für die Leute von Mousehole. Am Abend des 19. Dezember 1981 rückte die „Solomon Browne“ in schwerer See aus zur Rettung des Frachtschiffs „Union Star“, das mit acht Menschen an Bord und Maschinenschaden südlich der Landzunge Land’s End lag. Acht Mann gingen an Bord des Seenotkreuzers am Penlee Point im Norden des Dorfes, unter ihnen Charlie Greenhaugh, der Wirt des „Ship Inn“.

Die Wellen wuchsen 18 Meter hoch, der Wind raste mit 160 Kilometern in der Stunde. Um 21.21 Uhr rief die „Solomon Browne“ das letzte Mal die Küstenwache: „Vier Mann haben wir runtergebracht von der ‚Union Star‘. Zwei noch an Bord.“ Zwei waren wohl im Wasser.

Das ganze Dorf blieb wach vor den Funkgeräten, bis vor Tagesanbruch das Meer die ersten Wracktrümmer an die Küste spülte und der Wind nach Diesel roch.

Nur acht wurden gefunden, tot angespült – vier Schiffbrüchige, vier Retter. Am selben Tag meldete sich in Mousehole eine neue Mannschaft zum Dienst in der Station am Penlee Point.

Im Winter, wenn die Urlauber das Dorf allein lassen und sich nur die Einheimischen an der Bar des „Ship Inn“ am Hafen versammeln, dann denken sie an die acht, die fehlen in ihrer Mitte.

Am Abend des 23. Dezember aber feiern sie Tom Bawcock. Sie besingen den Mann und den Pie in einer Hymne: „Ein fröhlicher Ort, glaubt das nur, ist Mousehole am Tom Bawcock’s Eve / Wer würde sich nicht wünschen, dann dort zu sein, um zu dinier’n mit sieben Sorten Fisch.“ Das „Ship Inn“ serviert, gewichtig zur Schau getragen und genug für Mousehole, große Mengen Stargazy Pie. Und aus der Kruste gucken die Sardinen.

Stargazy Pie
Zutaten (für vier bis sechs Personen)
6 EL frische weiße Semmelbrösel, 150 ml Milch, 2 EL gehackte Petersilie, 3 EL Zitronensaft, Zesten, eine mittelgroße Zwiebel, gehackt; sechs filetierte Sardinen mit Köpfen, zwei hart gekochte Eier, fein gehackt; eine Scheibe Speck ohne Schwarte, klein geschnitten; Salz und frisch gemahlener schwarzer Pfeffer, 150 ml trockener Cider, 225 g Blätterteig.

Zubereitung
Semmelbrösel in Milch leicht aufquellen lassen, Petersilie, Zitronensaft, Zesten und Zwiebel dazugeben, gut mischen und alles in eine ofenfeste Form geben. Fischfilets hineinlegen und Eier, Speck, Salz, Pfeffer und Cider darüber verteilen. Teig ausrollen und über die Form drapieren, Fischköpfe und -schwänze hier und da herausschauen lassen. Bei 220 Grad 15 Minuten backen, danach weitere 25 Minuten bei 190 Grad.

The Ship Inn
South Cliff, Mousehole (Cornwall), Großbritannien;
Telefon + 44 1736 73 12 34; geöffnet täglich von 11 bis 23 Uhr;
www.shipinnmousehole.co.uk

mare No. 95

No. 95Dezember 2012 / Januar 2013

Von Constanze Kindel und Emily Davis

Autorin Constanze Kindel, geboren 1979, ist freie Autorin.

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Vita Autorin Constanze Kindel, geboren 1979, ist freie Autorin.
Person Von Constanze Kindel und Emily Davis
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