„Die Speicherstadt lebt“

Ein kleines Museum im alten Freihafen Hamburgs dokumentiert die große Zeit dieses Viertels. Des bizarrsten der Hansestadt

Dies ist die Gegend von Hamburg, wo Katzen die Köpfe hoch überm Pflaster tragen. Hier machen sie nämlich noch ihren Job. Keiner will und kann auf sie verzichten, und kein Mensch würde auf die Idee kommen, sie zu streicheln oder gar zu füttern. „Die Speicherstadt lebt“, sagt Henning Rademacher, Leiter und Inhaber des Speicherstadtmuseums, und damit meint er nicht so sehr die Angestellten, die in den letzten Jahren hier einige Büros bezogen haben, sondern hauptsächlich die Vierbeiner. Katzengröße und weit darunter. Wenn es darunter ist, kommen Spezialfirmen und begasen die Ware.

Wer das kleine Speicherstadtmuseum im Hamburger Freihafen besucht, begibt sich, zolltechnisch gesehen, ins Ausland. Über eine der vier Brücken von der City aus muss er gehen oder fahren, vorbei an uniformierten Zollbeamten, die hier Dienst tun wie an allen anderen Grenzen der Welt. Für Privatautos allerdings zeigen sie meist kein Interesse. Dabei werden die drei direkt zur Speicherstadt gehörigen Kontrollstellen täglich von tausenden passiert, weil es zwischen den Lagerhäusern so manchen versteckten Parkplatz gibt und in der nahegelegenen City eben gar nicht.

Reiche Gelegenheit für Konflikte zwischen den letzten alteingesessenen Speicherstadtarbeitern und den vielen eiligen Bürogeschöpfen. Letzteren muss man allerdings zugute halten, dass weite Teile der Speicherstadt heute nicht mehr sehr geschäftig wirken. Von den an die hundert nach dem Krieg hier emsig tätigen Quartiersleutefirmen haben nur noch rund vierzig ihre Adresse unter Namen wie Pickhuben oder Kibbelsteg, und nur ganze zehn sind noch mit der Bemusterung und Lagerung von Gewürzen, Tee und anderen Waren beschäftigt.

Stattdessen ist die Speicherstadt heute das größte Orientteppichlager der Welt, größere Lager gibt es nicht einmal mehr in London, Amsterdam oder Teheran. Doch Teppichhandel ist ein stilles Geschäft, das viel mit Warten zu tun hat und Händler erfordert, die mit zeitloser Gelassenheit auf ihren Knüpfwerken sitzen. Lange vorbei die Zeiten, in denen die Speicherstadt nur so brummte von „pass op“ und „hol över“ schreienden Windenmännern hoch oben in den Ladeluken, vom Surren der Seilzüge, vom Rauschen der Schüttware in den Rohrsystemen, vom Zischen und Klackern der ersten Sortiermaschinen, vom Rumpeln und Rumsen der rollenden Fässer, der Kautschukballen, die auf den Böden gestapelt wurden, der aufeinanderknallenden Teekisten. Lange vorbei auch die Jahre, als in der Speicherstadt noch strengste Gesetze im Umgang mit der Zeit galten. „Angefangene Monate und angefangene hundert Kilo werden als voll angerechnet“, hieß es schlicht in Paragraph 15 der Hamburger Lagerbedingungen.

Heute schaukeln in den Fleeten zwischen den neugotischen Speichern nur noch wenige Schuten; die Treppen, die zu den Anlegestellen führen, sind bemoost, und wenn nicht gerade ein Filmteam eine Sequenz mit Finsterlingen abdreht, ist es hier tagsüber so still wie im Inneren einer Teedose und nach Einbruch der Dunkelheit genauso finster. Viele der alteingesessenen Handelsfirmen sind in Flächenlager des Freihafens gezogen, wo man mit Gabelstaplern umhersausen und die Ware bis zu acht Meter hoch stapeln kann. In den alten Speichern hingegen ist das nicht möglich. Gabelstapler sind zu schwer für die Böden, zu hoch für die Decken, und die Paletten sind zu groß für die Luken. Kein Wunder, daß die Speicherstadt seit vielen Jahren die Phantasie von Architekten und Städteplanern, von Maklern, von Investoren und Kaufleuten anregt. Anfang der achtziger Jahre, nach Erfindung der Yuppies, ging in konfliktstarken und gleichermaßen finanzschwachen Kreisen die Angst um, man könne die Speicherstadt nach dem Vorbild der Londoner Docklands zu schicken Wohnkomplexen und teuren Shoppingmalls umgestalten. Doch diese Pläne sind vom Tisch. Neue gibt es erstmal nicht. Aber das Alte kann man auch nicht festhalten.

„Früher waren hier ja nur Firmen mit Hafenbezug“, sagt der Museumsleiter Henning Rademacher. „Aber jetzt vermietet die HHLA (Hamburger Hafen- und Lagerhaus Aktiengesellschaft; Anm. d. Red.) auch an Fremde. An die Buddy Holly-Produktion oder an eine Tiefsee-Explorationsfirma und Verlage zum Beispiel.“ Der 52jährige Rademacher hat die Sammlung des Speicherstadtmuseums vor zwei Jahren vom Museum für Arbeit übernommen und betreibt die kleine Ausstellung auf dem dritten Boden eines alten Speicherhauses nun auf eigene Kosten. Auf den ersten Blick ist es eine sehr kleine Ausstellung. Nicht viele Exponate, und sie sind nicht angestrahlt, aber man kann sie anfassen. In einem Teil des Raumes befindet sich gerade eine Fotoausstellung zur Geschichte des Hafens, in einem anderen ist der Probiertisch eines Teetesters aufgebaut, und in einer Ecke ein sozialkritisches Display über rohrzuckererntende Kinder in Brasilien. „Das mögen die Lehrer immer gerne“, sagt Rademacher trocken.

Aber das Beste sind natürlich die alten Gegenstände und Maschinen mit den seltsamen Namen. Da gibt es zum Beispiel noch eine Original-Absackstation. Dort wurden Säcke mit Ware gefüllt. Und einen Peekhaken, einen langen Stock, mit dem die Schuten in den Fleeten herumgestakt wurden. Und ein Stropp. Das ist ein geschlossenes Tauende. Daneben eine Stauerplatte. Einen Griepen. Einen Faß-Schlüssel. Die Abbildung eines Darmgebindes. Probenstecher in allen Größen. Kautschuktafeln verschiedener Qualitäten aus vielen fernen Ländern. Einen Eisernen, einen Bock und einen Achtersacker. Und es gibt einen wunderschönen Ausblick in die Fleete der Speicherstadt, einen heißen Kaffee und ein Stück Kuchen.

Rademacher, selbst zwölf Jahre zur See gefahren, zuletzt mit Kapitänspatent, hat ein unsentimentales, aber enges Verhältnis zu all diesen merkwürdigen Dingen, und er kann Geschichten erzählen. Über die Zukunft der Speicherstadt aber mag er sich nicht so recht äußern. Ist ja eigentlich auch alles klar. „Ein Museum ist doch immer das Zeichen, dass etwas vorbei ist“, sagt er.


Speicherstadtmuseum
St.-Annenufer 2, 20457 Hamburg
Geöffnet: dienstags bis sonntags
von 10 bis 17 Uhr

mare No. 2

No. 2Juni / Juli 1997

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