Die sowjetische Arche Noah

Im Zug der antikommunistischen Paranoia nach 1918 lassen US-Behörden mehr als 10 000 Menschen in die UdSSR deportieren

Sonntag, 21. Dezember 1919, vier Uhr. Ellis Island wirkt an diesem düsteren vierten Advent wie ein sibirisches Straflager: minus zehn Grad, eisige Böen über den Wellen, Schnee auf dem Boden. Viele Jahre wurden in den Gebäuden auf der Insel in New Yorks Hafen Millionen Einwanderer registriert, doch diesmal warten hier 249 Auswanderer auf ein Schiff, und das ist noch ein Euphemismus. Denn die frierenden, erschöpften Menschen auf Ellis Island sind Opfer der ersten Massendeportation der amerikanischen Geschichte.

Sie harren in einem Saal aus, „der lärmerfüllt und voller Qualm“ ist, wie ein Augenzeuge berichtet: schmutzi­ge Gestalten in zerschlissener ­Kleidung, gezeichnet von wochenlanger Haft, Junge und Alte und viel mehr Männer als Frauen. Dann treiben Wachleute die Menge hinunter zu einer Gangway, schließlich auf eine Barkasse. „Die Deportierten marschierten einer nach dem anderen, auf beiden Seiten flankiert von uniformierten Männern; Flüche und Drohungen begleiteten den Schritt ihrer Füße auf dem gefrorenen Grund.“ So erinnert sich eine der wenigen Frauen unter den Deportierten, eine kräftige 50-Jährige, der die Häftlingsnummer „38“ auf einem Zettel an den Mantel geheftet worden ist. Sie ist Emma Goldman, „Red Emma“, die wohl berühmteste Anarchistin ihrer Genera­tion.

Die Barkasse bringt Goldman und ihre Leidensgenossen quer durch den Hafen zur „Buford“, einem heruntergekommenen Truppentransporter aus dem letzten Krieg. Er ist 1890 auf der „Titanic“-Werft Harland & Wolff in Belfast gebaut worden, ein knapp 113 Meter langer, 8500 Tonnen verdrängender Kahn mit einem Schornstein, Frachträumen und einigen Kabinen. Das Schiff hat von New Yorker Journalisten den Spitznamen „sowjetische Arche Noah“ bekommen – tatsächlich soll Lenins Sowjetunion, zwei Jahre nach der Revolution und mitten im Bürgerkrieg, das Ziel des Dampfers und seiner menschlichen Fracht sein.

Auf der Barkasse kommt es zu einer symbolischen Szene, da das echte Leben manchmal doch so abläuft wie das Drehbuch eines Melodrams: Emma Goldman sieht auf dem Kahn mehrere Kongress­abgeordnete, die eigens aus Washington angereist sind, weil sie Augenzeugen der Aktion sein wollen. Und neben den Politikern steht der erst 24 Jahre alte, milchgesichtige Mann, der diese Massendeportation organisiert hat: J.  Edgar Hoover, der zukünftige Direktor des FBI. Da tritt Hoover auf Emma Goldman zu, Amerikas bekannteste Anarchistin und Amerikas mächtigster Polizist stehen sich für ein letztes Duell gegenüber.

Diese so düstere wie absurde Konfrontation ist der Höhepunkt der „Palmer Raids“: Massenverhaftungen, wie sie die USA noch nie zuvor erlebt haben, Überfälle auf vegetarische Restaurants und probende Chöre, Verhaftungen ohne Haftbefehle, Durchsuchungen ohne Beschlüsse, elende Gefängnisse und schließlich Massendeportationen. Diese „Überfälle“ werden nach Justizminister A.  Mitchell Palmer benannt, der für sie politisch verantwortlich ist. Durchgeführt hat sie jedoch J. Edgar Hoover, kaum der Universität entwachsen, der dort zum ersten Mal zur Nemesis der amerikanischen Freiheit wird. Denn den „Palmer Raids“ fallen kurz nach dem Ersten Weltkrieg Tausende zum Opfer. Weil sie Kommunisten sind. Weil sie Anarchisten sind. Oder einfach bloß, weil sie Fremde sind.

Die ersten Jahre des 20. Jahrhun­derts sind in den USA eine Zeit der Konflikte. Von 1905 bis 1914 erlebt das Land die letzte große Einwanderung. 10,5 Millionen strö­men ins Land, zu drei Vierteln Ost- oder Süd­europäer: Juden, Polen und Russen aus dem Zarenreich, dazu Tausende Südita­liener. Für die westeuropäisch und protes­tantisch geprägte US-Elite sind die Neuankömmlinge ein Graus. Der Autor Henry James schmäht sie als „kleine, seltsame Tiere […], Schlangen und Würmer“.

Dieses Misstrauen speist sich nicht allein aus fremden Sitten, sondern auch aus fremden Ideologien. Vor allem diese Ost- und Südeuropäer bringen Anarchismus und Kommunismus nach Amerika.

1901 etwa erschießt der Anarchist Leon Czolgosz den US-Präsidenten William McKinley. Alexander Berkman, ebenfalls ein aus dem Osten stammender Anarchist, metzelt mit Pistole und Messer den Industriellen Henry Clay Frick nieder (der schwer verletzt überlebt). Der italienische Anarchist Luigi Galleani veröffent­licht nach seiner Einwanderung eine Anleitung zum Bombenbau; seine Anhänger werden zwischen 1914 und 1932 mehr als 50 Anschläge verüben, mit über 40 Toten und Hunderten Verletzten.

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mare No. 159

mare No. 159August / September 2023

Von Cay Rademacher

Cay Rademacher Jahrgang 1965, ist freier Autorund studierte in Köln und Washington Anglo-Amerikani­sche Geschichte – wo er sich auf die zwanziger Jahre spezialisierte. Insofern sind die „Palmer Raids“ ein alter Bekannter für ihn.

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Vita Cay Rademacher Jahrgang 1965, ist freier Autorund studierte in Köln und Washington Anglo-Amerikani­sche Geschichte – wo er sich auf die zwanziger Jahre spezialisierte. Insofern sind die „Palmer Raids“ ein alter Bekannter für ihn.
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Vita Cay Rademacher Jahrgang 1965, ist freier Autorund studierte in Köln und Washington Anglo-Amerikani­sche Geschichte – wo er sich auf die zwanziger Jahre spezialisierte. Insofern sind die „Palmer Raids“ ein alter Bekannter für ihn.
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