Die Sehnsucht nach dem Dunkel

Allein im Kampf gegen die übermächtige See und ihre Bewohner: Die Geschichte ist voller Erzählungen von selbst ernannten Helden

Als der weisse Hai vor dem finalen Angriff taucht, zerstört der Kapitän erst einmal mit einer Axt das Funkgerät. Niemand soll in Steven Spielbergs Thriller in Versuchung kommen, Hilfe zu rufen; der fast acht Meter langen Bestie will er sich ganz allein stellen. Auch die Menschen in einem Habitat am Meeresgrund in James Camerons „Abyss“-Epos scheuen nicht vor lebensgefährlichen Regelübertretungen zurück, um ihrem Ziel näher zu kommen: Einmal angekommen und in unmittelbarer Nähe des Abgrunds auf dem Meeresboden zieht es sie tiefer und tiefer hinab.

Dass bereits Kapitän Ahab in Melvilles „Moby-Dick“ niemandes Tod scheut, um eine persönliche Fehde mit einem Riesenwal auszutragen, gehört zum Grundverständnis der Erzählungen der westlichen Welt – der Ozean ist längst zum Sinnbild einer Anziehungskraft geworden, die jede Rationalität vor allem von Männern ausschalten kann. Und zwar immer dann, wenn sie einen potenziell übermächtigen Gegner wittern.

Diese „Sehnsucht nach der Finsternis“ hat nicht zufällig so mannigfaltig Einzug in die Literatur- und Mediengeschichte gehalten. Sie markiert im Gegenteil das Bedürfnis vieler Menschen, an die Grenze der Welt zu gehen, die ein Mensch bewohnen kann, und dem Tod buchstäblich ins Auge zu sehen.

Ebenso wie Spielbergs Haijäger Quint, der die vermeintliche Kälte der schwarzen Augen des gejagten Tiers sogar im Dialog des Films konkret thematisiert: „Manchmal, sieht dich so ein Haifisch richtig an. Da ist etwas Eigenartiges an ihm“, erzählt der ehemalige Vietnamsoldat, „… er hat leblose Augen. Böse, tote, dunkle Augen. Wenn du ihm in die Augen schaust, glaubst du, er lebt nicht. Bis er dich beißt.“ Quint fürchtet, von der Kreatur verschlungen zu werden, gleichzeitig sucht er förmlich ihre Nähe. Obwohl er weiß, dass die Jagd auf den weißen Hai ihn umbringen kann, meldet er sich freiwillig für eben diese Jagd.

Eine rationale Begründung für sein Verhalten scheint es nicht zu geben, wenn man von dem vorgeschobenen Motiv des Küstenschutzes einmal absieht, das ihm noch zwei Mitfahrer auf sein Boot gespült hat. Im Gegenteil: Quint fordert mit seiner archaischen Form der Jagd die Natur regelrecht heraus und geht im Glauben an die eigene Überlegenheit ungeheure Wagnisse ein. Und er tut alles, um diesen Kampf nicht zu verlieren. Als sein Boot mit einem Motorschaden mitten auf dem Ozean liegen bleibt, kappt er die Verbindung zum Land, um die Bühne für das Finale des Dramas für sich allein zu haben.

Das Sich-Stellen und das Annehmen der Gefahr ist für den einzigen der drei Männer, den der Hai im Film letztlich tötet und frisst, zur Obsession geworden. Dabei wäre es vermutlich ein Fehler, Quint einen dunklen Hang zum Selbstmord zu unterstellen – er ist vermutlich eben derjenige der drei Haijäger in Spielbergs Film, der das Leben wie kein anderer schätzt.
 

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mare No. 143

mare No. 143Dezember 2020 / Januar 2021

Von Alexander Kohlmann

Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, ist promovierter Medienwissenschaftler und arbeitet als Dramaturg und Autor. In seiner Theaterarbeit erlebt er immer wieder, wie Grenzgänge auch im geschützten Raum einer Probebühne stattfinden können. Für mare schrieb er mehrere Essays, darunter über die doppelte Verfilmung von „Das Boot“ (mare No. 134) und das Flimmern des Meeres auf der Leinwand (mare No. 128).

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Vita Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, ist promovierter Medienwissenschaftler und arbeitet als Dramaturg und Autor. In seiner Theaterarbeit erlebt er immer wieder, wie Grenzgänge auch im geschützten Raum einer Probebühne stattfinden können. Für mare schrieb er mehrere Essays, darunter über die doppelte Verfilmung von „Das Boot“ (mare No. 134) und das Flimmern des Meeres auf der Leinwand (mare No. 128).
Person Von Alexander Kohlmann
Vita Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, ist promovierter Medienwissenschaftler und arbeitet als Dramaturg und Autor. In seiner Theaterarbeit erlebt er immer wieder, wie Grenzgänge auch im geschützten Raum einer Probebühne stattfinden können. Für mare schrieb er mehrere Essays, darunter über die doppelte Verfilmung von „Das Boot“ (mare No. 134) und das Flimmern des Meeres auf der Leinwand (mare No. 128).
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