Die Seeräuber

Hongkong braucht Land. Weil die Hügel hinter der Stadt als Baugrund nicht taugen, wird das Meer zugeschüttet

Tin Hau lächelt. Unter schrägen Lidern ruht ihr Blick auf dem alten Mann mit seinem dünnen Bart. Er hält drei Räucherstäbchen zwischen den zusammengelegten Handflächen, führt sie auf und ab, wiegt seinen Oberkörper. Seine Lippen formen ein Gebet. Seine Silben sind kurz und schnell, mehr Anweisung als Bitte. Es ist dunkel und verraucht im Tempel der Meeresgöttin. Sie hat Geburtstag, und immer neue Pilger drängen herein, breiten Früchte, Papiergaben und Totengeld auf den Opfertischen aus. An einer Seitenwand hängt an schwarzen Balken eine Bronzeglocke über einer bauchigen Trommel. Ein schlaksiger junger Tempeldiener steckt sich eine Zigarette in den Mundwinkel und greift sich den hölzernen Klöppel. Je drei Mal schlägt er Glocke und Trommel. Tin Hau hört. Tin Hau erhört. Der alte Mann verneigt sich tief. Die hohe Göttin, Herrscherin des Meeres und Kaiserin des Himmels, lächelt ungerührt hinter einem Schleier aus Perlenschnüren. Er hat geopfert und gebetet; sie wird ihn schützen. Jetzt dreht er sich um und verlässt den Tempel, tritt zwischen wartende Autos und verschwindet im dichten Fußgängerstrom der Stadt.

Überall an der südchinesischen Küste finden sich die Tempel der Tin Hau. Immer stehen sie am Wasser. Der Blick der Göttin ist aufs offene Meer gerichtet. So kann sie zu Hilfe eilen, wenn den Fischern Not droht. In Hongkong stehen ihre Tempel nicht am Wasser. Tief versteckt in den Schluchten aus Wohntürmen und Geschäftshäusern sitzt Tin Hau. Sie ist weit entfernt vom Wasser, und ihre Sicht aufs Meer ist längst verstellt. Warum? Einst standen auch hier die Tempel am Strand, sah Tin Hau, wer ihre Hilfe braucht. Hongkong ist kein Fischerdorf mehr, ist ins Meer gewachsen. Schicht um Schicht neuen Landes haben die Menschen dem Meer genommen und ihre Häuser darauf gebaut, haben der Göttin die Aussicht verstellt. Die Fischer haben gekämpft. Sie haben neue Tempelchen gebaut, klein wie Hundehütten, am Straßenrand manchmal oder auf einem Balkon, immer aber mit freier Sicht aufs Wasser. Darin sitzen kleine Stellvertreterinnen und melden der großen Göttin, wer auf dem Meer ihren Schutz braucht. 1848 haben die Engländer Hongkong besetzt. Seither wächst die Stadt ins Meer. Im Zentrum am Victoria Harbour liegen fast 500 Meter breite Streifen neuen Landes zwischen der ursprünglichen und der heutigen Küstenlinie. Weil der Baugrund auf den umliegenden Hügelflanken nicht tragfähig war, wurde dem Hafen seit 1860 in immer breiteren Schichten immer wieder neues Land abgerungen.

Hongkongs Wahrzeichen stehen durchweg auf aufgeschüttetem Land: die Skyline der Hochhäuser vor dem Hintergrund des Victoria Peak etwa oder die in der Bucht von Kowloon liegende Landebahn des alten Flughafens von Kai Tak, 1957 aufgeschüttet und 1974 noch einmal verlängert. In den gut 100 Jahren bis 1967 kamen insgesamt 1000 Hektar zusammen. Dann explodierten die Zahlen. In den darauf folgenden 30 Jahren bescherten der Bevölkerungszuwachs und der Machbarkeitswahn der Planer der Stadt zusätzlich 5000 Hektar. Das war in erster Linie auf die seit den fünfziger Jahren geplanten und in schneller Folge realisierten acht Trabantenstädte zurückzuführen. Mit einer Ausnahme kamen sie auf aufgeschüttetem Land zu stehen. Hinzu kamen die Aufschüttungen für die neuen Containerterminals und für den neuen Flughafen von Chek Lap Kok. Die Gesamtfläche aufgeschütteten Landes hat 1999 eine Größe von 62 Quadratkilometern erreicht und entspricht damit fast der Gesamtfläche der Hauptinsel Hongkong mit ihren 80 Quadratkilometern.

Hongkong heiße duftender Hafen, erklärt Winston Chu. „Bald hätten wir es in Chau Kok, stinkender Fluss, umtaufen müssen. Wenn die Regierung mit den Aufschüttungen im Hafen so weiter gemacht hätte, jedenfalls.“ Winston Chu ist ein gut 60-jähriger Hongkong-Chinese und erfolgreicher Anwalt mit einer großen Kanzlei mitten im besten Geschäftsviertel der Stadt. Sein Englisch ist präzise und sein Wortschatz überaus reich. Er hat einen Hang zu rhetorischen Reihungen: „Überall auf der Welt machen Regierungen Gesetze, um die Umwelt vor den Übergriffen ihrer Bürger zu schützen. Wir hier müssen Gesetze machen, um die Umwelt vor der Regierung zu schützen. Überall auf der Welt zieht die Regierung die Bürger vor Gericht, um diesen Gesetzen Geltung zu verschaffen. Wir hier müssen die Regierung vor Gericht ziehen, um den Gesetzen Achtung zu verschaffen.“

Genau das hat er getan. Seit ein paar Jahren gibt es ein Gesetz zum Schutz des Hafens. Es verlangt, dass neue Aufschüttungen nur noch zulässig seien, wenn sie absolut notwendig wären. Die Regierung aber plante eine neue Aufschüttung für ein Geschäftsviertel und begründete das ganz einfach mit dem Bedarf an Einkünften aus dem Verkauf der Grundstücke. Aber mit „absolut notwendig“ konnte das Gesetz ja kaum die schiere Geldgier gemeint haben. Winston Chu ließ eine Klageschrift gegen die wichtigsten Verwaltungs- und Regierungsmitglieder aufsetzen. Damit ging er nicht vor die Richter, sondern vor die Journalisten. Er drohte der Regierung mit einem jahrelangen Prozess. Schon am Nachmittag der Pressekonferenz kam der Anruf der Regierung: Man könne über alles reden, er solle seine Forderungen nennen. „Bedingungslose Kapitulation“ habe er geantwortet, sagt er, lacht und schiebt seine zu große Brille zurecht, „und ich habe sie bekommen.“ Die Aufschüttung ist bis heute nicht gemacht.

Chu und Loh sind die Namen, die der Regierung den Angstschweiß ins Gesicht treiben. Besonders, wenn sie zusammen auftauchen. Winston Chu hat seinen Kampf um den Hafen nur am Anfang allein gefochten. Auf der besagten Pressekonferenz hat er Christine Loh kennen gelernt. Auch sie Hongkong-Chinesin und Juristin, gut 40 Jahre alt, beredt und kämpferisch, stadtbekannte Meinungsmacherin und Umweltaktivistin. Mit ihr zu sprechen heißt, unter Beschuss zu stehen. Wie Salven feuert sie ihre Sätze, wenn sie die Geschichte der Hafenkampagne erzählt und die Umweltpolitik der Regierung geißelt. Bis vor kurzem war sie Mitglied des Stadtparlaments. Sie war es, die 1996 den Gesetzentwurf zum Schutz des Hafens eingebracht hatte. Monatelange Lobbyarbeit war dem vorausgegangen. Einstimmig nahm der Rat das Gesetz an und dehnte 1999 den Geltungsbereich noch aus. Heute ist das Gesetz zum Schutz des Hafens die wichtigste Waffe im Kampf gegen weitere Aufschüttungen.


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mare No. 29

No. 29Dezember 2001 / Januar 2002

Von Hansjörg Gadient und Jules Spinatsch

Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, ist Architekt sowie Architektur- und Kunstjournalist und lebt in Zürich. In mare No. 24 schrieb er über Möbel aus Rochenhaut.

Jules Spinatsch, geboren 1964 in Davos, lebt und arbeitet ebenfalls in Zürich. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er eine Monografie über Großstädte und künstliche Landschaften.

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Vita Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, ist Architekt sowie Architektur- und Kunstjournalist und lebt in Zürich. In mare No. 24 schrieb er über Möbel aus Rochenhaut.

Jules Spinatsch, geboren 1964 in Davos, lebt und arbeitet ebenfalls in Zürich. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er eine Monografie über Großstädte und künstliche Landschaften.
Person Von Hansjörg Gadient und Jules Spinatsch
Vita Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, ist Architekt sowie Architektur- und Kunstjournalist und lebt in Zürich. In mare No. 24 schrieb er über Möbel aus Rochenhaut.

Jules Spinatsch, geboren 1964 in Davos, lebt und arbeitet ebenfalls in Zürich. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er eine Monografie über Großstädte und künstliche Landschaften.
Person Von Hansjörg Gadient und Jules Spinatsch