Die rote Armee

Wenn die Landkrebse auf Christmas Island zu ihrem Marsch ans Meer aufbrechen, heißt es für die Menschen: Tür zu!

Ein abgelegener Ort wartet auf ein großartiges Ereignis. Auf Christmas Island, einer tropischen Insel im Indischen Ozean, steht den Menschen die Krabbenwanderung ins Haus. Denn obwohl die ausgestreckt bis zu 60 Zentimeter großen und 500 Gramm schweren Krebse mit dem feuerwehrfarbenen Panzer längst auf ein Leben an Land eingerichtet sind, müssen sie sich Jahr für Jahr auf eine ganz spezielle Hochzeitsreise begeben: Sie pendeln aus den Bergen herunter an die Küste. Ein Honeymoon, dessen Hin- und Rückweg einen großen Teil der ehemaligen Meeresbewohner das Leben kosten wird.

Gerade ein Jahrhundert hält die Massenwanderung der Roten Krabbe die Bewohner in Atem. Denn Menschen siedeln erst seit 1899 auf der Weihnachtsinsel, als hier eine bis heute bewirtschaftete Phosphatmine gegründet wurde. Der Name ist allerdings wesentlich älter: Am 25. Dezember 1643 entdeckte William Mynors, Kapitän des britischen Schiffes „Royal Mary“, das 16 mal 12 Kilometer große Eiland. Heute gehört es zu Australien, liegt aber viel näher an der indonesischen Insel Java.

60 Millionen Jahre hatte die Natur Zeit, die aufgetauchte Spitze eines gewaltigen Unterwasservulkans in einen Lebensraum für Tier- und Pflanzenarten zu verwandeln, von denen sich einige, darunter auch der rote Landkrebs, ausschließlich hier entwickelten. Kurz bevor der Vulkan erlosch, drückte er ein letztes Mal in vier Stufen Lava an die Oberfläche. Daher die charakteristischen, zum Meer hin steil abfallenden Terrassen und die nahezu senkrechten, von nur fünf kleinen Stränden unterbrochenen Klippen rundherum. Sie sind mit messerscharfen, schwarzen Felsen gespickt. An stürmischen Tagen prallen die meterhohen Wellen, deren Wucht seit der Antarktis durch kein einziges Stück Land gemindert wurde, mit einer derartigen Macht dagegen, dass die Gischt wie ein Geysir in die Höhe spritzt und das „Ffffummp“ bereits aus 500 Metern Entfernung durch Mark und Bein dringt.

Schon unter günstigen Bedingungen nicht gerade ein idealer Parcours für einen Krebs, der den größten Teil des Jahres auf dem flachen Boden des Dschungelplateaus verbringt. Richtig häuslich haben es sich die Krebse dort eingerichtet. Jedes Tier hat seine eigene Grube, die es als Schutz vor dem Austrocknen benötigt, und einen überschaubaren Aktionsradius, in dem es die welken Blätter, Samen und Mangofrüchte sammelt, die auf seinem Speiseplan stehen. Auch die Pflanzen haben ihre Vorteile: Der Waldboden wird gelüftet und umgegraben, und die pelletförmigen Krebs- Exkremente dienen als Dünger.

Aber Anfang November, wenn der Monsun beginnt, legen sie die Arbeit nieder. Sobald der erste Regen fällt, beginnen die Männchen – erkennbar an den deutlich größeren Scheren – mit ihrem Abstieg. Acht bis sechzehn Tage brauchen sie für den Marsch.

Wenn es regnerisch bleibt oder die Sonne von Wolken überschattet ist, geht es schneller, weil sie sich nicht vor der Hitze schützen müssen und ununterbrochen unterwegs sein können. Bei blauem Himmel beschränken sie sich auf den späten Nachmittag und die frühen Morgenstunden, und die Reise dauert dementsprechend länger. Innerhalb kurzer Zeit bedeckt sich die Insel wie mit einem roten Teppich, der sich von oben nach unten ausrollt.

Gärten, Straßen, Wände, Regenrinnen, Garagen und Treppenstufen – alles wird beschlagnahmt. Weder vor dem Golfplatz noch vor der Küche des Rockfall Cafés oder der Bar der Golden Bosun Tavern machen sie Halt. Auch auf die verschiedenen Religionen der Bevölkerung nehmen sie keine Rücksicht: in den chinesischen Tempeln, der Moschee der moslemischen Malaien oder auf dem Friedhof der christlichen Engländer und Australier – überall Krebse.

Linda Collett, 34, wohnt mit ihrem Mann Mike, 43, dem einzigen Schlachter vor Ort, und den drei Kindern in Drumsite, ganz oben direkt am Waldesrand. Linda ist eine der Ersten, die morgens Krebse vom Fliegengitter vor den Verandafenstern zu fischen beginnt. Die Familie ist im Vorjahr aus dem australischen Perth auf die Weihnachtsinsel gezogen – Linda fand das Schauspiel so beeindruckend, dass sie alles auf Video festhielt und an die Verwandtschaft auf dem Festland schickte. Nur was ihr jüngster Sohn Brady, 16 Monate alt, davon halten würde, darüber war sie sich zunächst nicht im Klaren. „Ich dachte, er hätte Angst“, sagt sie. „Stattdessen lief er quiekend im Garten herum und scheuchte sie begeistert vor sich her.“ Nur eins musste sie ihm schnell beibringen: immer die Türen hinter sich zu schließen.

Vier Tage später als Linda verbarrikadiert Tamara Nowacki, 46, den Eingang zu ihrer Waschküche im Souterrain mit einem Brett. Nicht, dass die 30 Zentimeter hohe Hürde für die Krebse ein echtes Hindernis bedeuten würde. Aber da sie sich eher in Strömen voranbewegen, lassen sie sich mehr oder minder leicht umlenken, wenn man ihnen etwas in den Weg stellt.


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mare No. 27

No. 27August / September 2001

Von Susanne Hase, Claudine Doury und Jürgen Freund

Susanne Hase, Jahrgang 1968, ist freie Journalistin. Sie bereist momentan die Welt auf der Suche nach dem richtigen Platz zum Leben. Dies ist ihr erster Text in mare

Claudine Doury, geboren 1959, ist Mitglied der Agentur VU und lebt in Paris. Die Französin, die zum ersten Mal in mare veröffentlicht, war 2000 eine der Gewinnerinnen des World Press Photo Award mit einer Serie über das Leben sibirischer Nomaden

Jürgen Freund, Jahrgang 1959, lebt als Fotoreporter in Manila/Philippinen. In mare No. 22 erschienen seine Fotos von Seeschlangen

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Vita Susanne Hase, Jahrgang 1968, ist freie Journalistin. Sie bereist momentan die Welt auf der Suche nach dem richtigen Platz zum Leben. Dies ist ihr erster Text in mare

Claudine Doury, geboren 1959, ist Mitglied der Agentur VU und lebt in Paris. Die Französin, die zum ersten Mal in mare veröffentlicht, war 2000 eine der Gewinnerinnen des World Press Photo Award mit einer Serie über das Leben sibirischer Nomaden

Jürgen Freund, Jahrgang 1959, lebt als Fotoreporter in Manila/Philippinen. In mare No. 22 erschienen seine Fotos von Seeschlangen
Person Von Susanne Hase, Claudine Doury und Jürgen Freund
Vita Susanne Hase, Jahrgang 1968, ist freie Journalistin. Sie bereist momentan die Welt auf der Suche nach dem richtigen Platz zum Leben. Dies ist ihr erster Text in mare

Claudine Doury, geboren 1959, ist Mitglied der Agentur VU und lebt in Paris. Die Französin, die zum ersten Mal in mare veröffentlicht, war 2000 eine der Gewinnerinnen des World Press Photo Award mit einer Serie über das Leben sibirischer Nomaden

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