Die Radlosigkeit der Weltgeschichte

Nicht der Erfinder des Rades hat die Menschheit vorangebracht, sondern der des Segels

Auf einem Napf aus der sumerischen Stadt tell Halaf im heutigen Syrien ist sie zu sehen: die älteste Abbildung eines Menschen auf einem zweirädrigen Gefährt, etwa aus der zweiten Hälfte des vierten Jahrtausends vor Christus. Welche Gedanken mögen den mesopotamischen Erfinder beschlichen haben, der dem Wagenfahrer zur so revolutionären Fortbewegung verholfen hat? Vorahnungen von „Formel-1“-Rennautos? Oder Zweifel, dass sich die Erfindung überhaupt durchsetzt? Schließlich ist auf sumerischen Schrifttafeln im Zusammenhang mit Wagenfahrten auffällig oft von Achsbruch die Rede. Und selbst gemessenen Schrittes konnte der Mensch auf den Offroad-Parcours noch jeden Ochsenkarren überholen. Kein Wunder also, dass sich die Neuerung zunächst kaum durchsetzte: Sogar in benachbarten Kulturen sind die ältesten Darstellungen von Rädern runde tausend Jahre jünger. Und trotzdem: Keine Gerätschaft genießt in der Diskussion über die Geschichte der Fortbewegung größere Symbolkraft als das Rad. Zu Recht?

Während der Wagenlenker laut und mühsam durch mesopotamische Gemarkungen rumpelte, saßen längst ganz entspannte Altägypter auf einem andersartigen Fahrzeug und rauschten ihrem Ziel entgegen. Auf einer Vase etwa aus dem Jahre 4000 vor Christus ist sie zu sehen: die älteste überlieferte Abbildung eines Segels. Kein Zufall, dass sie in Ägypten auftauchte, bot sich doch der Nil nicht nur als Lebens- und Kulturbringer, sondern auch als Verkehrsader geradezu an: flussabwärts mit der Strömung treiben, aufwärts im stetigen, kräftigen Nordwind segeln.

Ein paar Jahrhunderte Vorsprung hatte also das Segel gegenüber dem Rad. Doch gut 5000 Jahre lang fuhren sie gleichzeitig, im Wettstreit um die besten Plätze in der Ruhmeshalle der Verkehrsgeschichte. Doch lässt sich überhaupt nebeneinander halten, was da zu Lande und was zu Wasser transportiert wurde? Es ist ein gewagter Vergleich, ähnlich wie der zwischen Äpfel und Birnen, aber auch der ist entgegen aller Volksweisheit gestattet.

Greifen wir ein beliebiges Zahlenspiel aus jenem 5000-jährigen Wettlauf heraus, zugegeben ein sehr beliebiges. Aber fairerweise sogar eines aus dem Endspurt sozusagen, als das Rad bereits manche Strecke gefahren war. Elfriede Rehbein zieht in ihrem Buch „Einbaum, Dampflok, Düsenklipper“ einen Vergleich: Zwischen 200000 und 300000 Tonnen habe gegen Ende des 15. Jahrhunderts die Fracht aller Hansesegler per anno betragen, „nur ein verschwindend geringer Teil der jährlichen Seefrachten des 20. Jahrhunderts“. Aber, fährt sie fort, „man sollte nie übersehen, welcher Mühe und Tatkraft es damals bedurfte, um solche Warenmengen zu verfrachten und umzusetzen.“ Technische, wirtschaftliche und rechtliche Hindernisse standen dem Transport entgegen. Berücksichtige man, so vergleicht die Autorin, „dass beispielsweise über den Sankt-Gotthard-Pass, eine der wichtigsten Verbindungsstrecken der oberdeutschen Handelsstädte nach Italien, im 15. Jahrhundert jährlich nur 1250 Tonnen transportiert wurden, wird deutlich, was die Hanseschifffahrt für ihre Zeit darstellte.“ Nur ein Teil der transalpinen Fracht wurde auf Radfahrzeugen transportiert, alles andere auf Eselsrücken. Doch gerade dies verdeutlicht die relative Stellung des Rades – sogar gegen Ende des Wettstreites, da im Zeitalter der aufkommenden Manufakturen die Bedeutung des Landtransportes gewachsen war.

Von Anfang an hatte das Rad nur unter zwei Bedingungen eine Chance: Ein flotteres Zugtier musste herangezogen werden, als es der ursprünglich eingesetzte Ochse war: das Pferd. Und es benötigte ein Straßensystem, das unterhalten werden muss. Vor allem daran krankte der Verkehr auf Rädern wenigstens in den ersten 4000 Jahren, mit Ausnahme der Hoch-Zeit der Römer.

Das Rad wird gefeiert, auch wider besseres Wissen. Die von Peter Kemper 1997 herausgegebene Anthologie über die Geschichte der menschlichen Fortbewegung stellt mit ihrem Titel „Am Anfang war das Rad“ eine These auf, die das Buch selbst mehrfach widerlegt. Schon über die Hochkultur der Ägypter heißt es darin: „Landverkehr war angesichts solch optimaler Bedingungen der Flussschifffahrt und der direkten Verkehrsanbindung aller Siedlungen an das Wasserstraßennetz ohne großes Interesse und für Fernverbindungen völlig ohne Bedeutung.“ Fand Landverkehr doch statt, so vor allem auf dem Rücken von Eseln. „Am Anfang“ war das Rad also schon gar nicht.


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mare No. 20

No. 20Juni / Juli 2000

Ein Essay von Ulli Kulke

Ulli Kulke ist stellvertretender Chefredakeur von mare. Sein letzter Essay erschien in Heft 17: „Alkohol, der Treibstoff auf See“

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Vita Ulli Kulke ist stellvertretender Chefredakeur von mare. Sein letzter Essay erschien in Heft 17: „Alkohol, der Treibstoff auf See“
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