Die Quellen der Meere

Im Land der Wasserscheiden. Eine Reise zu den Ursprüngen von Rhein und Rhône, Inn und Tessin

Wir sitzen mitten in der Schweiz über dem Rhônegletscher, unser Blick geht weit über ihn hinweg nach Süden, wohin der Fluß eilt, der aus dem Eisstrom hinunter ins Tal fällt. Am Horizont blinken die Granitzacken und -hörner der Walliser Alpen. In unserem Rücken steht ein Kranz aus Dreitausendern, über deren Gipfel die Wasserscheide verläuft, die Nord und Süd trennt – genauso wie der Grimselpass uns gegenüber, der von Norden her in das Rhônetal abfällt. Über ihm – Wasserscheiden sind Wetterscheiden – steht eine weiße Wolkenwand. Sie scheint sich in kleine Nebelfetzen aufzulösen, die über den Pass wehen und sich in der Wärme der aufsteigenden Luft verlieren. Trotz des Verschwindens dieser Nebelfedern wird die weiße Wand nicht kleiner; neue Wolken drängen nach.

Im Joch des Passes regnet es, während hier warmer Wind den Duft von Wiesen und Wald hochweht. Der Regen am Grimsel wird über die Aare in den Rhein fließen und in die Nordsee münden, aber das in der Sonne gleißende Mäander der Rhône unten im Tal führt zu einem Delta am Mittelmeer, zum harten Grün einer salzigen Marsch, deren Farben an die Flechten und Moose dieses Granitkessels hier erinnern.

Im labyrinthischen Delta der Rhône vermuteten die Griechen einen Eingang zur Unterwelt. Aber ob einer ihrer Hadesreisenden je wieder ans Licht trat, hier auf dem Dach Europas?

Die fern am Horizont ziehenden Wolken, die Fernsicht und der ungewohnte Maßstab der Überschau erzeugen einen leichten Schwindel, einem Sog gleich, der Zugvögel ihrem Ziel näherbringt. Der Kuckuck, den wir auf den Hinweg in den Auenwäldern gehört haben, ist ein Bewohner des Kongo, der blau und rotbraun schillernde Bienenfresser an den Weinhängen des Wallis überwintert in Nordafrika.

Die Farben des Eises scheinen wie ein Chiffre ihrer Reise: Meerblau schimmert im Weiß des Gletschers. Wer am Rande einer Spalte steht oder in den an der Furkastraße ins Eis gehauenen Tunnel steigt, entdeckt, wie das tiefe Blau gegen die Bruchstellen hin türkis wird: wie das Meer hinter den Felsen von Cassis in der Nähe der Deltamündung.

Die Rhône hat es eilig, diese Farben zum Meer zu tragen. Wo bis vor wenigen Jahrzehnten ein großer Eisfall zu Tal stürzte, schrumpft der Gletscher Jahr für Jahr, so dass der Fluss nicht mehr einem Gletschertor entspringt, sondern unter dem Weiß in vielen Rinnsalen und Bächen hervorquillt und von Fels zu Fels hinabstürzt. Der Gletscher hat den hellen Stein so glatt poliert, dass die Formen aus Eis und Stein ineinander übergehen und nur das Wasser die Grenze zwischen beidem markiert. Tosen erfüllt den Bergkessel, der sich hinter einer engen Schlucht zur nächsttiefer gelegenen Talstufe öffnet, der die Straße folgt. Der Lauf des Wassers, seine geduldige Erosionskraft schuf die Wege, sie gab den Landschaften ihre Richtung von den Wasserscheiden zum Meer.

In der Enge der Schluchten sahen die Pilger und Wanderer früherer Zeiten „Höllenlöcher“, die sie selbst auf gemauerten Übergängen noch fürchteten: die „Teufelsbrücken“ überall in den Alpen. Erst als die Reisenden den Blick nicht mehr erschreckt an den Boden hefteten, entdeckten sie die Schönheit der Landschaft, die sie mit leichtem Schauder „erhaben“ nannten: „Welches Chaos von aufeinander stürzenden Bergen liegt hier! Der Anblick ist öde und leer, aber groß“, vermerkte ein englischer Besucher im Jahre 1779. Heute sind die Schrecken der Reisen gebannt, die Gipfel bestiegen und vermessen. Doch dieses bewundernd geschriebene „groß“ gilt weiter, kann uns noch immer faszinieren.

Am Horizont schieben sich Wolken vor die Sonne, die die Umrisse als bewegtes Marmormuster auf den Gletscher zeichnet. Das Auge fährt den wandernden Lichtsäumen über die bläulichen Felder und die mit Steinen und Lös bedeckten Mittelmoränen nach, wo der Gletscher Hügel aufwirft. Der Betrachter meint, von einer Klippe herab das Lichtgeäder auf einem Ozean zu beobachten, dessen Wellen erstarrt sind. Bilder von Eis und Meer legen sich übereinander: zwei Blicke auf das menschenleere Ende der Natur.

Wer der Wasserscheide nach Osten folgt, gelangt über den Furkapass durch das Hochtal von Urseren zum Oberalppaß. Hinter ihm, in 22 km Entfernung Luftlinie, entspringt der Rhein. In den Alpen liegen die Meere dicht beieinander.

Den Rhein speisen zwei Quellflüsse, der Vorder- und der Hinterrhein. Die Frage nach der „richtigen“ Quelle des Rheins wird heute rechnerisch beantwortet: Von der Vorderrheinquelle sind es 1320 Kilometer bis Rotterdam, weiter als vom Hinterrhein aus, dem unzugänglicheren Zwilling, der zur Zeit der Alpenentdeckung noch den Vorzug erhalten hatte. „Ursprung des Rheins“ prangt deshalb heute auf einer Kupfertafel am Felsriegel, der den Lai da Tuma, den Quellsee des Vorderrheins, gegen das Tal eindämmt.

Sein Wasser füllt den steilen Bergkessel fast vollständig, harter Schnee rutscht die steilen schwarzen Wände herab und bricht mit seiner giftgrün schimmernden Kante in das dunkle Petrol des Wasserspiegels. Dem Felsriegel gegenüber, wo die aus Gletscherrinnen entspringenden Bäche in einem sumpfigen Delta zusammenfließen, hat eine Schuttlawine Felsbrocken so aufgetürmt, dass sie wie eine Replik auf Caspar David Friedrichs Eismeer-Bild erscheinen.

Wenn der Himmel sich zuzieht, wird der Seespiegel mit seinen bis spät in den Juni darübertreibenden Eisschollen stumpf wie das schaumige Oliv der Sturmsee. Doch selbst bei heftigerem Wind bleibt das Wasser im Schatten der Berge still – eine gespannte Ruhe liegt über ihm, das erst an der Stelle, wo es durch eine Felslücke ins Tal stürzt, aus der Balance gerät und in eine ungeheure Beschleunigung übergeht: Die ersten tausend der 2375 Höhenmeter auf seiner Reise zum Meer wird der Rhein bis zu dem kleinen Dorf da unten zwischen den Tannen zurücklegen. Auf einem Hundertstel seiner Länge verliert der Rhein die Hälfte seiner Höhe.

Die Reinheit des Wassers im Lai da Tuma – es schmeckt, wie wenn man in einen Schneeball beißt – ist so erstaunlich wie seine Gewalt. Herabstürzend scheint es alles mit sich zu reißen und hier oben nur dem Moos und den Flechten im Dunkel seines Spritzwassers das Bleiben zu gönnen. Ohne die überall herabbrausenden Gewässer wäre das Tal karg und öd.

So aber hören wir bereits zwei Wochen nach dem Abtauen der letzten Hänge das polyphon-arhythmische Glockenläuten der Ziegen, die auf den parallel zum Hang laufenden Viehtritten sattgrüne Bergflanken abgrasen. Zwischen Silber-disteln blüht Storchenschnabel, und wo Schaf und Ziege nicht hinkommen, der rare Gelbe Alpenmohn. Der Weg zu den Quellen führt immer wieder durch Winkel, wo seltene Pflanzen wie in einem Refugium dicht an dicht stehen: Trollblume, Teufelskralle, Eisenhut.

Auf der Rückseite des Gotthardmassivs hinter dem Lai da Tuma entspringt der Fluss Tessin, der dem südlichsten Kanton der Schweiz den Namen gibt und gemeinsam mit den Quellen von Rhône und Vorderrhein ein Dreieck über die Wasserscheiden legt. Auf dem kurzen Weg von seinem Ursprung unterhalb des Nufenenpasses bis zum Lago Maggiore, durch den er die Schweiz verlässt, um in den Po zu münden und der Adria zuzufließen, hat er – verglichen mit dem Rhein bis zum Bodensee – ein größeres Gefälle auf der Hälfte des Weges zu bewältigen.

In den nördlichen Alpen fallen die Täler über deutlich gegliederte Stufen, die nur durch enge Schluchten verbunden sind, hinab. Hier mußten die Flüsse mit ihrer in die Tiefe ziehenden Wucht Barrieren sprengen: die Rheinschlucht bei Flims oder die Klamm der Via Mala bei Thusis, durch die sich Vorder- und Hinterrhein zwängen, bevor sie sich zu dem Strom vereinen, dem Dämme bis zum Bodensee ihren schnurgeraden Lauf aufdrängen.


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mare No. 10

No. 10Oktober / November 1998

Von Hans Jürgen Balmes und Jochen Knobloch

Hans Jürgen Balmes, Jahrgang 1958, ist Literaturwissenschaftler, arbeitet als freier Lektor, Übersetzer und Publizist und lebt in Winterthur. Regelmäßig schreibt er Beiträge für die Neue Zürcher Zeitung und die Weltwoche.

Jochen Knobloch, Jahrgang 1941, studierte Fotografie und arbeitet nach Stationen in Leipzig und Berlin seit 1983 als freier Fotograf in Hamburg. Für beide ist dies ihr erster mare-Beitrag.

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Vita Hans Jürgen Balmes, Jahrgang 1958, ist Literaturwissenschaftler, arbeitet als freier Lektor, Übersetzer und Publizist und lebt in Winterthur. Regelmäßig schreibt er Beiträge für die Neue Zürcher Zeitung und die Weltwoche.

Jochen Knobloch, Jahrgang 1941, studierte Fotografie und arbeitet nach Stationen in Leipzig und Berlin seit 1983 als freier Fotograf in Hamburg. Für beide ist dies ihr erster mare-Beitrag.
Person Von Hans Jürgen Balmes und Jochen Knobloch
Vita Hans Jürgen Balmes, Jahrgang 1958, ist Literaturwissenschaftler, arbeitet als freier Lektor, Übersetzer und Publizist und lebt in Winterthur. Regelmäßig schreibt er Beiträge für die Neue Zürcher Zeitung und die Weltwoche.

Jochen Knobloch, Jahrgang 1941, studierte Fotografie und arbeitet nach Stationen in Leipzig und Berlin seit 1983 als freier Fotograf in Hamburg. Für beide ist dies ihr erster mare-Beitrag.
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