Die Olsenbande

Eine norwegische Unternehmerdynastie ist seit einem Jahrhundert heimlicher Herrscher über die Kanareninsel La Gomera. Ihre Bewohner versuchen sich nun erstmals in Emanzipation

Jeden Nachmittag hüllt sich der Berg Garajonay in Wolken. Passatwinde treiben die Fronten über den Atlantik. Am höchsten Punkt bleiben sie hängen und entladen am Gipfel ihre Fracht als horizontalen Regen. Nach und nach erreichen die Tröpfchen die Schluchten und Hänge, die vom Garajonay hinabführen wie Rillen und Rippen einer Zitronenpresse. Rinnsale, Wasserfälle und Staubecken bilden sich auf der runden Insel, ein Bild der Schwermut. Eine dieser Schluchten heißt Benchijigua. Sie liegt im Süden des kanarischen Eilands und ist von 300 Meter hohen Felswänden begrenzt. Ihr Wasser suchte sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts seinen Weg zum Strand von Santiago. Dort verdunkelte es die Lavasteine, das Geröll, den Kies und versickerte schließlich im Meer.

Die Ureinwohner von La Gomera gaben der Schlucht ihren Namen. „Dort, wo das Wasser ist“ heißt Benchijigua in der Sprache der Guanchen. Sie waren über den Ozean gekommen, vermutlich aus dem marokkanischen Rif-Gebirge, das ans Meer grenzt. Spanische Eroberer beschrieben die Guanchen im 16. Jahrhundert als „melancholische Menschen, die die Einsamkeit lieben“.

Als der norwegische Reeder Thomas Olsen im Jahr 1904 zum ersten Mal den schwarzen Strand von Santiago betrat, war er ergriffen. Sein Blick folgte dem Lauf des Wassers, das sich in die BenchijiguaSchlucht zwängt. „Hier leben die Menschen so abgeschieden wie in unseren Fjorden“, soll der Geschäftsmann gesagt haben. La Gomera entsprach seinem Gemüt. Und so machte der Norweger die knapp 370 Quadratkilometer kleine Insel zu seiner zweiten Heimat.

Er baute sich ein Haus, auf einem Hang neben der Schlucht. Er genoss La Gomeras ewigen Frühling, beim Frühstück auf der Veranda, bei Spazierfahrten im Cabrio, beim Betrachten des Wolkenspiels. Oft hörte er „Madame Butterfly“, Giacomo Puccinis Operndrama um eine vergessene Geliebte.

Dann kaufte er die Rechte am Wasser. Und er kaufte Land. Hier einen Hektar, dort einen Hektar, immer im Süden, wo die Insel sanfter und flacher ist. Er legte Plantagen an, exportierte Bananen und Tomaten nach Nord- und Westeuropa. 500 Gomeros gab er Arbeit, er gab ihnen Häuser, ein Kasino, ein Kino, eine Krankenstation. Er bezahlte seine Arbeiter in Olsen-Währung, verkaufte ihnen alles, was sie brauchten, im Olsen-Warenhaus, ließ sich von ihren Kindern mit Fähnchen begrüßen, warf ihnen Süßigkeiten zu, zeigte Mickymaus-Filme. Auch nachdem er 1955 einen Schlaganfall erlitten hatte und sein ältester Sohn Fred die Geschäfte führte, kam Thomas immer wieder auf die Insel, im Rollstuhl. Er liebte sie, und sie war längst seine geworden. Bis heute sind die Spuren von Thomas und Fred Olsen überall zu sehen.

„Knochen und Keks“ nennen die Leute das Olsen-Logo, das in Rot und Gelb grüßt – auf den Fähren, die mehrmals täglich von der Nachbarinsel Teneriffa im Hafen von San Sebastián einlaufen; auf den Dächern und Quittungen der Taxis, die im Hafen an der Avenida Fred Olsen warten; auf dem Dach des Restaurants „Las Rosas“, wo täglich bis zu 400 Touristen essen. Man sieht es auf den Bungalows des Olsen-Hotels, auf den Buggies des Golfplatzes, am Tor zur Villensiedlung „Don Tomás“, auf Zuckertütchen, auf Papierservietten und auf einer verschlossenen Halle, in der einst Bananen verpackt und Tomaten sortiert wurden. „Fred. Olsen Agricultura S.A.“ steht in verwaschenen roten Lettern auf der Fassade des lang gezogenen Baues. Er erhebt sich wie vergessen hinter einer kleinen Bananenplantage. Ihre Früchte werden den Hotelgästen am Frühstücksbuffet angeboten. Gegenüber der Halle stehen Norweger, Briten und Deutsche auf dem Golfplatz, auf der anderen Seite ruht der Atlantik. Die Rauchfahnen der Bananendampfer sieht man heute nicht mehr über dem Meer. Seit den achtziger Jahren exportiert La Gomera nichts mehr. 25 Prozent der Gomeros sind arbeitslos.

Das war früher anders. „Die Olsens waren wichtige Arbeitgeber. Unsere Arbeitskraft war sehr billig. Sie haben auf der Insel sehr viel Geld verdient“, sagt Nicolás Rodríguez, 45-jähriger Gemeinderat in Alajeró und Sohn ehemaliger Plantagenarbeiter. Die Gemeinde erstreckt sich im Süden über einen der Olsen-Hänge und hat 2000 Einwohner. Früher hatten sie Agrarland, das sie bewirtschaften konnten. Heute haben sie nichts. „Wir haben den Olsens zwei Millionen Quadratmeter Agrar- in Bauland umgewandelt“, sagt Rodríguez, „seitdem warten wir.“ Die Gomeros hoffen auf Investitionen, auf Ideen, auf einen Dampfer am Horizont, wie Madame Butterfly.

Wenn die Insulaner heute von „den Olsens“ sprechen, dann meinen sie Fred und Petter Olsen, zwei Brüder. Den beiden Norwegern gehören fünf Prozent der Insel, das sind 20 Millionen Quadratmeter. „Die Einheimischen haben Thomas damals hängeweise das Land überschrieben, für billiges Geld. Sie dachten: Was ist der trockene Süden schon wert? Fürs Geschäftemachen hatten sie keinen Sinn“, erzählt Rodríguez. Zieht man von La Gomeras Gesamtfläche 33 Prozent ab – so viel Fläche steht unter Naturschutz – und streicht dazu all die Schluchten, Kessel und Pässe, dann bleibt nicht viel nutzbares Gelände, eigentlich nur das Olsen-Land im Süden.

Und so vertreiben sich die Gomeros ihre freie Zeit in den Bars und sagen Sätze, die resigniert klingen. „Fred Olsen ist der Patriarch. Was soll ich Ihnen sagen? Er war schon immer hier.“ Ihnen ist der Name so vertraut wie die Grundnahrungsmittel Palmhonig und gerösteter Getreideschrot. Zu gern wüssten sie, was die Norweger im Sinn haben.

Inselpräsident Casimiro Curbelo, der sein Amt seit 19 Jahren innehat, flüchtet sich in Floskeln. „Fred Olsen war und ist für uns sehr wichtig“, sagt seine Pressesprecherin. Curbelo kontrolliert die Medienlandschaft. La Gomera hat keine eigene Zeitung, dafür einen öffentlichen Radio- und einen Fernsehsender sowie mehrere lokale, private Sender, deren Reichweite sich oft nur auf eine Schlucht begrenzt.

Der Name Olsen taucht in La Gomeras Medien nur in den Fahrplänen der Fähren auf. Ein einziges Interview hat Fred Olsen vor elf Jahren gegeben. Und über das stattliche Wohnhaus von Inselpräsident Curbelo, das oberhalb von San Sebastián auf ehemaligem Olsen-Grund steht, wird auf der Insel nichts veröffentlicht. „Sie werden hier niemanden finden, der unabhängig seine Meinung äußert, abgesehen von mir vielleicht. Meine Familie lebt auf Teneriffa, und meinen Job habe ich vom spanischen Erziehungsministerium bekommen“, sagt Rubén Martínez. Er ist Lehrer und linker Aktivist in San Sebastián und einer der wenigen, die über das Erbe der Norweger auf der Insel sprechen wollen. „Das demokratische Niveau ist hier extrem niedrig“, sagt Martínez. „Bürgerbeteiligung? Vergessen Sie es!“

Die Gomeros sind es gewohnt, abhängig und besitzlos zu sein. Noch in den 1970er Jahren mussten Landarbeiter ihren Herren abends die Füße waschen. Man sprach die Kaziken mit „mein Gebieter“ an. Fred Olsen teilte sich die Insel mit drei oder vier Familien von Großgrundbesitzern, die ihre Ländereien jahrhundertelang hielten. Und der Reeder profitierte davon, dass in Spanien Diktatur herrschte.


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mare No. 80

No. 80Juni / Juli 2010

Von Brigitte Kramer, Heike Ollertz und Niklas Hughes

Noch nie hat Brigitte Kramer, Jahrgang 1967, den Unterschied zwischen dem armen Süd- und dem reichen Nordeuropa so direkt erlebt wie bei dieser Recherche. Auf La Gomera traf sie Arbeitslose, die das ganze Jahr über in Badesandalen herumlaufen; in Oslo flanieren die Menschen auf Hauptstraßen mit Fußbodenheizung. Kramer lebt seit zehn Jahren auf Mallorca.

Heike Ollertz, geboren 1967, Fotografin aus Hamburg, war auf La Gomera zufällig in demselben Hotel untergebracht wie Bundeskanzlerin Merkel, die dort gerade ihren Osterurlaub verbrachte. „Es wimmelte von Sicherheitskräften, die jeden Schritt von mir skeptisch beobachteten. Das war ziemlich gruselig.“

Niklas Hughes lebt, zeichnet und arbeitet in Hamburg.

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Vita Noch nie hat Brigitte Kramer, Jahrgang 1967, den Unterschied zwischen dem armen Süd- und dem reichen Nordeuropa so direkt erlebt wie bei dieser Recherche. Auf La Gomera traf sie Arbeitslose, die das ganze Jahr über in Badesandalen herumlaufen; in Oslo flanieren die Menschen auf Hauptstraßen mit Fußbodenheizung. Kramer lebt seit zehn Jahren auf Mallorca.

Heike Ollertz, geboren 1967, Fotografin aus Hamburg, war auf La Gomera zufällig in demselben Hotel untergebracht wie Bundeskanzlerin Merkel, die dort gerade ihren Osterurlaub verbrachte. „Es wimmelte von Sicherheitskräften, die jeden Schritt von mir skeptisch beobachteten. Das war ziemlich gruselig.“

Niklas Hughes lebt, zeichnet und arbeitet in Hamburg.
Person Von Brigitte Kramer, Heike Ollertz und Niklas Hughes
Vita Noch nie hat Brigitte Kramer, Jahrgang 1967, den Unterschied zwischen dem armen Süd- und dem reichen Nordeuropa so direkt erlebt wie bei dieser Recherche. Auf La Gomera traf sie Arbeitslose, die das ganze Jahr über in Badesandalen herumlaufen; in Oslo flanieren die Menschen auf Hauptstraßen mit Fußbodenheizung. Kramer lebt seit zehn Jahren auf Mallorca.

Heike Ollertz, geboren 1967, Fotografin aus Hamburg, war auf La Gomera zufällig in demselben Hotel untergebracht wie Bundeskanzlerin Merkel, die dort gerade ihren Osterurlaub verbrachte. „Es wimmelte von Sicherheitskräften, die jeden Schritt von mir skeptisch beobachteten. Das war ziemlich gruselig.“

Niklas Hughes lebt, zeichnet und arbeitet in Hamburg.
Person Von Brigitte Kramer, Heike Ollertz und Niklas Hughes