Die Monster von Nantes

In einem Karussell auf der Île de Nantes scheinen sich Tiefseeungeheuer im Kreis zu drehen. Aber sie sind vielmehr die Produkte einer höchst kreativen künstlerischen Vision

Prolog. Im Jahr 1987 starb ein Teil der Seele der Stadt Nantes. „Bougainville“ hieß das letzte Schiff, das die Werft Dubigeon in ihren Hallen fertigstellte; mehr als 200 Jahre Schiffbautradition waren Geschichte. Im 16. Jahrhundert war Nantes die größte Hafenstadt Frankreichs, im Zug der Industrialisierung wurde der Schiffbau im 19. Jahrhundert zum mächtigen Wirtschaftsfaktor. In Hochzeiten arbeiteten 8000 Menschen auf der Werft. Zurück blieben verlassene Industriebauten auf einer Insel inmitten der Loire, gut sichtbar von der Stadt am Ufer. Leere Werkshallen, verödete Rampen, rostende Kräne, ein verblassender Schriftzug auf einem stolzen Gebäude aus dem Jahr 1918: Ateliers et chantiers de Nantes.

Zurück blieb auch: eine traumatisierte Kommune, nur durch den Fluss von der Wunde getrennt. Viele Jahre war es, als läge ein ewiger Schatten auf der Brache, kein Nanteser wollte auch nur in ihre Nähe, sie sagen noch heute: Zu groß war der Schmerz.

Die handelnden Personen. Jeden Abend, wenn die Sonne sich senkt, steigt Pierre Orefice die Treppen hinauf bis zur höchsten Ebene des Karussells und blickt hinüber auf die Stadt. Eine große Ruhe macht sich dann in ihm breit, er fühlt, dass er zusammen mit seinem Freund François Delarozière und der Compagnie La Machine einen Ort geschaffen hat, der die Bewohner von Nantes mit dem Lauf der Geschichte versöhnt. Magique nennen ihn viele, „verzaubert“.

Le carrousel des mondes marins steht dort, wo die alten Schiffsrampen enden, umhüllt von einem Gerüst aus Beton, das aussieht wie die Befestigungen des Flussufers. Ein architektonisches Zitat, das ein Bild erschaffen soll: Die rotierende Wunderwelt ist aufgetaucht aus den Tiefen, im Verborgenen war sie immer schon da. Auf dem Plakat, das 2012 die Eröffnung des Karussells ankündigte, ist es von stürmischen Wellen umtost. Und man möchte es wirklich glauben, dass die 35 Objekte, die auf drei Ebenen ihre Runden drehen, ein Eigenleben haben; dass jedes eine Geschichte erzählen kann, von dort, wo es herkommen soll: aus dem Meer. Der Piratenfisch etwa, ein Grätenskelett aus bleichem Lindenholz, dessen Pilot die Bewegungen mit einem Steuerknüppel aus Knochen dirigiert. Die Krabbenlarve, die hier zu einer beeindruckenden Größe von fast drei Metern heranwachsen durfte und stolz zwei Menschen auf sich reiten lässt. Der Mantarochen, der so anmutig mit den Flossen schlagen kann, weil 110 handgefertigte Holzteile in einer präzise ausgeklügelten Abfolge von seinen Schöpfern montiert wurden. Er schwebt durch die Luft, und wer ihm dabei zusieht, wähnt sich auf einem verrückten Tauchgang, der Boden der Tatsachen ist weit entfernt.

Das Karussell und seine heute sehr freundliche Umgebung aus Grünflächen, Grillstationen und Spazierwegen sind von der pragmatischen Seite her betrachtet das Ergebnis eines selten gelungenen Zusammenspiels von Politik und Kunst. Jean-Marc Ayrault, der frühere Bürgermeister von Nantes, wollte der Insel den Schrecken nehmen. 337 Hektar misst ihre gesamte Fläche, bebaut mit Industrie- und Lagerhallen, durchzogen von breiten Straßen. Sie ist ein ganzer Stadtteil im Fluss und seit knapp 20 Jahren stadtplanerisches Großprojekt. Hier sollen Wohnungen entstehen und Parks, hier soll sich die Wissenschaft entfalten und die Kunst.

Man gab dem tristen Areal im Zug der Umgestaltung den Namen „Île de Nantes“ und lud kreative Geister ein, ihre Fantasie dort walten zu lassen, wo es an Freude und Ästhetik fehlte, aber nicht an Platz. Pierre Orefice und François Delarozière denken gerne in größeren Dimensionen. Sie haben sich bei Royal de Luxe kennengelernt, jener französischen Straßentheatertruppe, die die Welt mit gigantischen Marionetten bespielt. François Delarozière, getriebener Künstler, Erfinder, Konstrukteur, gründete 1999 seine eigene Truppe La Machine. Mechanik und die Schönheit der Bewegung ist deren Thema. Der Akademieabsolvent aus Marseille hat selbst spielende Musikinstrumente erschaffen, Maschinen, die Wein einschenken, Riesenspinnen aus Holz und Stahl, die Häuserwände erklimmen. Pierre Orefice, der studierte Politologe und Ökonom, hatte den Masterplan und die richtigen Verbindungen. Sie nannten ihr Projekt Les machines de l’île.

Ein Vergnügungspark, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte, sollte auf der Insel wachsen, ein Vergnügungspark, für den die profane Vorstellung, die der Begriff weckt, eine Beleidigung wäre. Keine schnellen Sensationen, keine Effekthascherei, kein billiger Ramsch. Stattdessen: ein Erlebnis, das bei einem bleibt, mit all der Sorgfalt, Hingabe und Begeisterung inszeniert, die ein großes Schauspiel braucht. Im Französischen gibt es dafür ein schönes Wort: spectacle.


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mare No. 109

No. 109April / Mai 2015

Von Martina Wimmer und Robert Voit

mare-Redakteurin Martina Wimmer, Jahrgang 1965, konnte nicht alle Karussellfiguren ausprobieren, plant aber eine neue Reise.

Robert Voit, Jahrgang 1969, fotografierte das künstliche Meeresgetier im Großbildformat.

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Robert Voit, Jahrgang 1969, fotografierte das künstliche Meeresgetier im Großbildformat.
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