Die Letzten werden die Letzten sein

Eineinhalb Jahre nach der Katastrophe von Fukushima zeigt sich: Das Ende der Fischerei in der Region scheint besiegelt, vorerst

Fünf Uhr morgens an einem Montag in Fukushima, ein kalter Wind bläst vom Meer in den Hafen von Yotsukura. Kapitän Mitsunori Suzuki, 60 Jahre alt, zieht seine Schirmmütze mit dem goldenen Anker in die Stirn und schiebt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Seit 40 Jahren fährt er aufs Meer, wie schon sein Vater und sein Großvater. Gedankenverloren schaut er über die „Dai-San Jin-Yo Maru“, den 30 Jahre alten Kutter. Seine Finger gleiten über die Reling, er rückt einen Fender zurecht und wirft einen langen Blick auf seinen Sohn Ken, der am Bug die Netze von Algen und Seesternen befreit. Er sollte einmal den Familienbetrieb übernehmen. Dann steuert der Kapitän seinen Kutter durch ein Bollwerk aus Wellenbrechern hinaus in die Nacht.

Eine Stunde später steigt die Sonne aus dem Meer, und Suzuki weist die Crew an, die Netze auszuwerfen. Hier beginnt die 20-Kilometer-Sperrzone, die um das havarierte Atomkraftwerk gezogen wurde, eine imaginäre Grenze, an der Boote der Küstenwache patrouillieren, um aufkreuzende Schiffe aus der Gefahrenzone zu weisen. Kapitän Suzuki kneift die Augen zusammen und deutet auf einen Punkt am Horizont. „Der zerstörte Reaktor Daiichi.“ Angst? „Nein. Ich mache nur meinen Job.“

Seit April 2011 stechen jede Woche zwölf Fischkutter im Auftrag der Präfektur Fukushima in See, um Fische zu fangen, die ein Labor an Land auf radioaktive Belastung testet. Jede Woche bestimmt die Fischereigewerkschaft der Stadt Iwaki nach dem Rotationsprinzip, wer auslaufen darf. Seitdem es verboten ist, Fisch aus den Gründen vor Fukushima zu verkaufen, gibt es zu wenig Arbeit für zu viele Fischer; fast die gesamte regionale Fangflotte liegt vor Anker. Aber auch wer auslaufen darf, sieht darin wenig Sinn. „Mit Fischerei hat das alles nicht mehr viel zu tun“, sagt Kapitän Suzuki. „Eher mit einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, um uns bei Laune zu halten. Aber ich bin froh, einmal rauszukommen.“

Rauskommen, das heißt, den Gameshows im Fernsehen und dem Grübeln über Vergangenheit und Zukunft zu entrinnen. Möwen segeln um das Schiff, ihr Kreischen mischt sich in das Stampfen des Motors. Die Netze sind im Wasser, der Kapitän drosselt die Fahrt. Alles wie immer, könnte man meinen.

Die Fischgründe vor Fukushima waren einmal eine Art Schlaraffenland, berühmt für ihre Vielfalt an Meeresfrüchten, für ihren Reichtum an Rotbarsch, Seezungen, Makrelen und Oktopoden. Nach der Katastrophe haben sich radioaktive Isotope im Plankton und Meeresboden, in Fischen und Algen eingenistet: Cäsium-134, Cäsium-137, Jod-131. Der Fischfang in der Sperrzone soll so lange verboten sein, bis die Strahlung auf einen zumutbaren Wert gesunken ist. Wann das sein wird? Niemand weiß es. Vielleicht nur Monate oder doch Jahre oder gar Jahrzehnte?

Dabei geht die japanische Regierung mit der Gefahr ohnehin großzügig um. Während die ukrainischen Behörden nach der Tschernobyl-Katastrophe einen maximal zulässigen Wert von 150 Becquerel je Kilogramm Fleisch, Fisch oder Gemüse festlegten, glauben die Gesetzgeber in Japan, dass eine mehr als dreifach höhere Belastung zumutbar ist. Die Kunden glauben es nicht. „Niemand kauft mehr unseren Fisch“, sagt Suzuki, während die „Dai-San Jin-Yo Maru“ ihr Schleppnetz durch die See zieht. „Unser Meer ist tot.“

In den ersten Monaten nach der Katastrophe hatte er noch gehofft, dass sich das radioaktive Kühlwasser aus dem Atomkraftwerk Daiichi im Pazifik verdünnen würde. Dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis er wieder zu den Fischgründen hinausfahren kann, die ihm ein Leben in Wohlstand beschert hatten. Dass Ken, der Sohn, seine Nachfolge antreten würde. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt er leise.

Die Vier-Mann-Crew zurrt das Netz an Bord. Dem Schlamm folgen braune Seesterne, dann die ersten Fische. Es ist ein fetter Fang. Aale, Rochen, Rotbarsche, Seezungen, Makrelen, auch drei kleine Dornhaie zappeln auf dem Deck. Inmitten des vibrierenden Haufens liegt eine braune Damenhandtasche. Ken öffnet sie und kippt den Inhalt aus: ein rosa Mobiltelefon, ein Schminktäschchen, Schlüssel, eine Brieftasche mit einem Führerschein. Auf dem Passfoto lächelt Shiga Sachiko. Knapp drei Wochen nach dem Tsunami hätte sie ihren 41. Geburtstag gefeiert. Der Führerschein wandert von Hand zu Hand, stumm betrachtet jeder das Foto und geht wieder an die Arbeit, sortiert den Fang und wirft ihn in blaue Plastikbottiche.

„100 000 Yen liegen da drin“, sagt der Kapitän. Umgerechnet etwa 1000 Euro. Er greift sich einen zappelnden Aal. „Sieht doch ganz normal aus. Und zum Schluss müssen wir alles, was nicht ins Labor wandert, wieder ins Meer werfen?“


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mare No. 93

No. 93August / September 2012

Von Carsten Stormer und Dominic Nahr

Carsten Stormer, Jahrgang 1973, freier Journalist in Manila, lehnte dankend ab, als man ihm Sashimi aus Fukushima anbot. Sein Dolmetscher hatte dagegen weniger Berührungsängste; er schob sich eines nach dem anderen in den Mund.

Mehrmals fuhr der Schweizer Fotograf Dominic Nahr, Jahrgang 1983, nach Fukushima, um die Stille nach der Katastrophe einzufangen. Nahr wird von der Pariser Fotoagentur Magnum vertreten.

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Vita Carsten Stormer, Jahrgang 1973, freier Journalist in Manila, lehnte dankend ab, als man ihm Sashimi aus Fukushima anbot. Sein Dolmetscher hatte dagegen weniger Berührungsängste; er schob sich eines nach dem anderen in den Mund.

Mehrmals fuhr der Schweizer Fotograf Dominic Nahr, Jahrgang 1983, nach Fukushima, um die Stille nach der Katastrophe einzufangen. Nahr wird von der Pariser Fotoagentur Magnum vertreten.
Person Von Carsten Stormer und Dominic Nahr
Vita Carsten Stormer, Jahrgang 1973, freier Journalist in Manila, lehnte dankend ab, als man ihm Sashimi aus Fukushima anbot. Sein Dolmetscher hatte dagegen weniger Berührungsängste; er schob sich eines nach dem anderen in den Mund.

Mehrmals fuhr der Schweizer Fotograf Dominic Nahr, Jahrgang 1983, nach Fukushima, um die Stille nach der Katastrophe einzufangen. Nahr wird von der Pariser Fotoagentur Magnum vertreten.
Person Von Carsten Stormer und Dominic Nahr