Die Kraft der zwei Zangen

Werkzeugkunde: Eine Schere schnappt, die andere quetscht

Eingerahmt von Toastbrot, Butter und einer Sauce nach Art des Hauses machen die gekochten Scheren des Taschenkrebses Appetit. Was dort so harmlos und lecker als „Knieper“ auf dem Teller liegt, verleiht dem Krebs zu Lebzeiten gewaltige Kräfte. Einem menschlichen Finger, der zwischen seine Kneifer gerät, vermag der Taschenkrebs schmerzhaft zuzusetzen. Ausgewachsene Exemplare der verwandten Roten Felsenkrabbe oder der Braunen Felsenkrabbe lassen sogar Fingerknochen zersplittern.

Auch der Hummer ist für die Kraft seiner großen Scheren berüchtigt. Wie viele andere Krebse trägt er zwei ungleiche Zangen mit sich herum. Die klobige Zange – Crusher oder Quetscher genannt – packt am kräftigsten zu. Sie kann hartschalige Beute, beispielsweise Wellhornschnecken, aufknacken. Die zweite, schlankere Zange – Cutter oder Schneider mit Namen – dient als Fang- oder Schneideschere.

Das Geheimnis der Kraft liegt in dem Muskel, der die Schere schließt. Ein weiter außen gelegener, kleinerer Muskel klappt sie wieder auf. Unter dem Mikroskop zeigen die Fasern des Schließermuskels auf den ersten Blick einen ähnlichen Aufbau wie die Skelettmuskelfasern eines Menschen. „Sie sehen aus wie ein schmales, durchsichtiges Plastikseil, das mit vielen nebeneinander liegenden Querstreifen bemalt ist“, erklärt der Meeresbiologe Graeme M. Taylor von der Universität Alberta in Kanada, der nach langjährigen Forschungen an Schildkröten und Fröschen nun auf die Krebse gekommen ist. Die unter dem Mikroskop dunkel erscheinenden Streifen trennen funktionell wichtige Einheiten der Muskelfaser voneinander ab – die so genannten Sarkomere. In ihnen findet die Umwandlung von chemischer in mechanische Energie statt. Ziehen sich die Sarkomere zusammen, verkürzen sich die Fasern und der Muskel kontrahiert.

„Bei genauerem Hingucken sieht man zwar, dass die Fasern des Krebses sehr viel weniger dieser Streifen besitzen“, so Taylor. Das heißt also, die einzelnen Sarkomere der Muskelfasern sind länger. Der kanadische Biologe hat aber bewiesen, dass nicht die Häufigkeit, sondern die Länge der Sarkomere im entspannten Muskel ein direktes Maß für die Leistungsfähigkeit der Faser ist. „Je länger die Sarkomere sind, desto mehr Kraft kann erzeugt werden“, so Taylor. Die Sarkomere des Schließermuskels der Roten Felsenkrabbe können eine Länge von 18 Mikrometern (18 Millionstel Meter) erreichen. Wirbeltiere dagegen müssen sich in ihren Skelettmuskeln mit durchschnittlich 2,5 Mikrometern begnügen – egal ob Elefant oder Maus. Was an Sarkomer-Kraft fehlt, lässt sich allerdings über eine Vergrößerung der Muskelmasse hinzugewinnen.

Beim Krebs ist der Schließermuskel in ein ausgefeiltes mechanisches System eingebettet. Die Menippe mercenaria, eine Steinkrabbenart, setzt ihrer Beute auf diese Weise mit einer Scherenkraft von 800 Newton zu. Sie gehört damit – in Beziehung zu ihrem Körpergewicht gesetzt – zu den Stärksten im Tierreich. Zum Vergleich: Ein starker Mensch kann mit seiner Hand zwar eine Kraft von rund 1000 bis 1500 Newton aufbringen. Er verteilt diese Kraft aber auf seine gesamte Handfläche und die Finger. Der Krebs dagegen bündelt seine Kraft in einer Zange, kann sie also auf bedeutend kleinerer Fläche auf den Knackpunkt bringen. Außerdem muss der Mensch für seinen Kraftakt mehrere Muskeln aktivieren. Die kleinen Krebse hebeln ihre Scheren mit jeweils nur einem einzigen Muskel.

Einen Nachteil hat die Kraftmeierei mit den Muskelfasern allerdings. „Je länger die Sarkomere sind, desto langsamer ist die Bewegung des Scherenfingers“, weiß Taylor, der bei seinen Forschungsarbeiten des Öfteren heftig gezwickt wurde, aber noch alle Finger beisammen hat.

Die Wahl zwischen Kraft und Schnelligkeit der Scheren hat die Evolution mit dem Kompromiss der unterschiedlichen Scheren gelöst. So sind die Sarkomere in der kräftigen Knackschere des Amerikanischen Hummers fast doppelt so lang wie in der schwächeren Fangschere. Die Fangschere kann dafür mit einer Geschwindigkeit von 20 Metern pro Sekunde zuklappen – schneller als ein Lidschlag. Was dann hängen bleibt, kann der Hummer somit ganz in Ruhe in die Knackschere umladen und optimal einzwängen – wenig später kracht’s.

mare No. 27

No. 27August / September 2001

Von Ute Schmidt und Günter Radtke

Ute Schmidt, Jahrgang 1966, Biologin und freie Journalistin, schrieb für mare bereits über die Besonderheiten mehrerer Tierarten, zuletzt über die Mönchsrobben in Heft 25

Günter Radtke, geboren 1920, zeichnete zuletzt für mare No. 25 Meeres-Energieanlagen. Der Presse-Illustrator lebt in Uetze bei Hannover

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Vita Ute Schmidt, Jahrgang 1966, Biologin und freie Journalistin, schrieb für mare bereits über die Besonderheiten mehrerer Tierarten, zuletzt über die Mönchsrobben in Heft 25

Günter Radtke, geboren 1920, zeichnete zuletzt für mare No. 25 Meeres-Energieanlagen. Der Presse-Illustrator lebt in Uetze bei Hannover
Person Von Ute Schmidt und Günter Radtke
Vita Ute Schmidt, Jahrgang 1966, Biologin und freie Journalistin, schrieb für mare bereits über die Besonderheiten mehrerer Tierarten, zuletzt über die Mönchsrobben in Heft 25

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