Die Insel der Hafu

In dem entlegenen Pazifikarchipel der Bonininseln hoffte unser halb japanischer, halb deutscher Autor den Ort zu finden, wo gemischte Ethnien nicht die Ausnahme, sondern die Norm sind

Im Sommer 1981, ich war neun, merkte ich zum ersten Mal, dass mit mir etwas nicht stimmte. 
Es waren Ferien, ein heißer Tag, und ich ging in meinem Wohnort Frechen-Königsdorf bei Köln zu meiner angestammten Eisdiele. 25 Pfennig die Kugel, ich freute mich auf Erdbeere und Schoko, meine Lieblingssorten. Auf einmal, kurz vor der Kirche, stoppten mich drei entgegenkommende Kinder, Jungs, alle einen Kopf größer. „Hey, Schlitzauge“, sagte einer von ihnen, „bist du Chinese?“ Noch bevor ich mit Nein antworten konnte, blaffte er: „Was machst du hier? Geh zurück in dein Land!“ Das war der erste Schlag. 

Der zweite Schlag folgte kurz darauf, ein paar Wochen später in Japan. Wie immer besuchten wir in den Sommerferien Oma, Opa und meine Tante in Omiya, einem Vorort von Tokyo. Diesmal reiste ich mit meinem Vater noch nach Hiroshima, dem Ort des Atombombenabwurfs. Doch als wir dort ankamen, passierte etwas Merkwürdiges. 

Noch auf dem Bahnsteig bildete sich eine Menschentraube um uns. Es waren Schulkinder, vielleicht ein Dutzend, alle uniformiert. Sie glotzten, mit offenen Mündern, tuschelten irgend­etwas. Dann zückten einige ihre Kameras und fotografierten mich. Hochkant, seitlich, nah, weit. Ein Mädchen bat mich darum, zu lächeln. Ich fühlte mich wie die neueste Attraktion im Zoo. Ein zur Schau gestelltes exotisches Tier, das man abknipst, ehe man weitergeht.
Das war der zweite Schlag.

Bis zu jenem Sommer war ich stolz darauf, ein halb japanischer Junge zu sein. Meine Eltern – mein Vater deutsch, meine Mutter japanisch – hatten mir stets ver­sichert, dass es eine Bereicherung sei, zwei Kulturen in sich zu tragen. Zwei Heimatländer, zwei Muttersprachen, ich könne doch froh sein. Es waren warme Worte, und sie leuchteten mir ein. 
Doch nun zweifelte ich. Vielleicht stimmte die Sache mit den zwei Heimaten gar nicht. Vielleicht hatte ich ja gar keine Heimat? Nicht deutsch genug für Deutschland, nicht japanisch genug für Japan. 

Der deutsch-französische Naturforscher und Weltumsegler Adelbert von Chamisso (1781–1838) schrieb einmal: „Ich bin ein Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich. Katholik bei den Protestanten, Protestant bei den Katholiken, Jakobiner bei den Aristokraten und bei den Demokraten ein Ad­liger. Ich bin nirgends am Platze, ich bin überall fremd.“ Wenn man so will, bin ich ein Japaner in Deutschland und ein Deutscher in Japan, ein Christ bei den Schintoisten, ein Schintoist bei den Christen.

Wie Chamisso spürte ich dieses Gefühl von Fremdheit, egal, wo ich mich aufhielt, ob nun zu Hause in Deutschland oder in meiner zweiten Heimat Japan. Ich fragte mich: Gibt es überhaupt einen Ort auf der Welt, wo Halbjapaner wie ich sich wohlfühlen können? Wo Halbjapaner das Normalste auf der Welt sind? 

Mit solchen Fragen im Kopf entließ ich mich selbst in die Zukunft. Ich ging meinen Weg, in Deutschland, machte Abitur, studierte und gründete eine Familie. Ras­sis­tische Kommentare gab es immer wieder, manche waren sogar freundlich gemeint („Du sprichst aber gut Deutsch“), andere weniger („Scheiß Japaner“). 

Ich hakte das ab – bis ich eines Tages einen Tipp bekam, von einem Japaner. 
Es gebe da eine abgelegene Insel im Pazifik, die zwar zu Japan gehöre, aber gar nicht richtig japanisch sei. Die Menschen dort seien gemischt, es sei ein Durcheinander an Ethnien und Kulturen. 

Ich wurde hellhörig. Könnte dies etwa der magische Ort sein? Auf einmal spielte meine Fantasie verrückt. Ich malte mir eine tropische Insel aus, wo Mischlinge wie ich ein bescheidenes, aber glückliches Leben führen. Wo sich zerrissene Seelen treffen, ohne sich vor Diskriminierungen fürchten zu müssen. In meiner Fantasie gab ich diesem Ort sogar einen Namen: die Insel der Halbjapaner. 

Ich musste ihn besuchen, diesen Ort. Und so machte ich mich, mehr als ­40 Jahre nach jenem denkwürdigen Sommer, auf den Weg – zu den Bonininseln. 

Es war der Aufbruch zu einer Reise, die anders sein würde. Ich würde nicht als Reporter auftreten und Interviews mit Bürgermeistern, Surfern oder Fischern führen. Nein, diese Reise würde eine Reise ins Ich sein. Es würde darum gehen, mich selbst zu befragen: Sind die Bonin­inseln der Ort, von dem du schon als kleiner halb japanischer Junge geträumt hast? Der Ort, an dem dich die Menschen akzeptieren, wie du bist? 

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mare No. 167

mare No. 167Dezember 2024 / Januar 2025

Von Jan Keith und Kosuke Okahara

Jan Keith, Jahrgang 1971, mare-Redakteur, genoss die 24-stündige Schiffsreise nach Chichijima. Es war seine erste Pazifik­passage.

Kosuke Okahara, geboren 1980, Fotograf in Tokyo, war vor Jahren schon einmal auf den Bonininseln – und freute sich über das Wiedersehen mit dem einen oder anderen Insulaner.

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Vita

Jan Keith, Jahrgang 1971, mare-Redakteur, genoss die 24-stündige Schiffsreise nach Chichijima. Es war seine erste Pazifik­passage.

Kosuke Okahara, geboren 1980, Fotograf in Tokyo, war vor Jahren schon einmal auf den Bonininseln – und freute sich über das Wiedersehen mit dem einen oder anderen Insulaner.

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Jan Keith, Jahrgang 1971, mare-Redakteur, genoss die 24-stündige Schiffsreise nach Chichijima. Es war seine erste Pazifik­passage.

Kosuke Okahara, geboren 1980, Fotograf in Tokyo, war vor Jahren schon einmal auf den Bonininseln – und freute sich über das Wiedersehen mit dem einen oder anderen Insulaner.

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