Die Hüter des Nichts

Miskitos, die Küstenindianer Nicaraguas, leben vom Meer. Sie tauchen nach Langusten – und fischen nach Kokain

Fluch der Tränen.Der 23-jährige Dexter Colly wird die Qualen seines Vaters nie vergessen. „Die Schmerzen in seinem Kopf, in den Gelenken. Wenn er auf See war, nahm er Medikamente. Die Taucher spritzen sich gegenseitig, dann geht es. Aber wenn sie nach Hause kommen, bricht es raus. Oft kommen sie weinend von Bord.“

Dexters Vater starb am 19. November 2001. 18 lange Jahre tauchte Evaristo „Chester“ Colly vor der nicaraguanischen Karibikküste nach Spiny Lobsters, Langusten, für die Gourmetrestaurants in den USA. Dann riss ihm in 40 Meter Tiefe die Lunge. Seiner Frau Rosalina und den acht Kindern hinterließ er die Schmerzen.

„Er war einer der besten Taucher von Sandy Bay“, schwört Rosalina. Seit seinem Tod muss Rosalina die Familie von ihrem kleinen Laden finanzieren, mit dem Verkauf von Instantsuppen, Reis und bolis – süßen Limonaden in kleinen Plastikbeuteln, wie die Kinder von Li Daukra sie lieben, ganz gleich zu welcher Tageszeit.

Li Daukra bedeutet „Die vom Wasser Umschlossene“ und ist eine von zehn Gemeinden der Miskito-Indianer in Sandy Bay, nur wenige Bootsstunden von der Grenze nach Honduras entfernt. Eine schlangenförmige Zufahrt durch die Mangroven verbindet die 6000 Miskitos von Sandy Bay mit dem Meer, mit Li Tijo, dem „tiefen Wasser“. Eine Lebensader, denn „wer nicht im Meer arbeitet, hat nichts zu essen“, sagt Rosalina Colly.

Dieses Nichts von Li Daukra spürt man schon am Morgen. Hahnenschrei begrüßt das Grauen, kreischende María mulatas unterstützen den Vogelsang hoch von den Palmen und wecken schlafende Hunde. Kühe und Pferde laufen frei über die Wiesen zwischen den Hütten, recken sich nach herabhängenden Spitzen der Palmwedel. Nur Schweine sind verboten, seit die Adventistische Kirche zeitweise das Sagen hatte. Schweine tragen die Sünde.

Die Menschen in den sechs Dutzend Häusern schieben allmählich die Mückennetze beiseite. Dann greifen sie nach einem Krug Wasser und gehen hinaus auf die Veranda. Eine alte Frau setzt sich auf die Stufen und kämmt sich mit geschlossenen Augen und zartem Lächeln das graue Haar. Ein Fischer trägt ein Benzinfass auf seinen Schultern zur Lagune, wo sein Boot liegt. Bald öffnet die tienda, und Kinder laufen mit einer Schale los, für ein Pfund Bohnen, zwei Eier und natürlich einen boli. Frauen holen Wasser aus dem Brunnen, während ein paar Männer unter einem gewaltigen Mangobaum palavern. Eine Besprechung des Nichts.


Lobster und Taucher

„Der Friedhof ist auf der anderen Seite der Lagune“, erzählt Roddnie Bodden und schiebt seine braune Baseballmütze der Sandinisten-Partei hoch. „Mit den Toten gab es viel Ärger, denn hier dürfen wir sie nicht mehr begraben. Wegen der Brunnen.“ Die Gemeinden von Sandy Bay liegen nur wenige Zentimeter über dem Meeresspiegel. Und in der Regenzeit glaubt man leicht, sie liegen darunter. „

Der 78-jährige Roddnie fährt heute nur noch gelegentlich zum Fischen hinaus. „Ich habe mit 25 angefangen zu tauchen. Aber ich habe mir nie einen Tank auf den Rücken geschnallt.“ Roddnie ist stolz darauf und blickt auf seine breiten, ledrigen Füße. „Ich fing die meisten Langusten in Tiefen von zwölf Metern, manchm al in 20 Metern. Und ich konnte bis zu 15 Minuten unten bleiben.“

Die Miskito-Indianer zählen zu den besten Freitauchern der Welt. „Du tauchst auf, machst eine kurze Pause und gehst wieder runter.“ Roddnie sucht seine Machete. Mit besorgtem Blick schaut er auf die Veranda gegenüber. Dort lässt sich sein Schwiegersohn José Elias müde auf einen Stuhl sacken. Der alte Roddnie ist eigentlich keiner, der sich die Sorgen anderer Leute macht. Aber auch seine Söhne kommen immer wieder krank vom Tauchen zurück. „Sie gehen 40 bis 50 Meter runter. Zwölf Tage nichts als tauchen! Mann, dieser Druck zerquetscht einen.“ Roddnie blickt hinüber zum anderen Ufer, wo die Toten liegen.

Fast alle Familien von Sandy Bay stellen Langustentaucher. Sie fangen mit Reusen oder tauchen frei, aber die meisten der 3500 Miskito-Taucher vor der nicaraguanischen Atlantikküste gehen mit Aluminiumtanks aus den frühen achtziger Jahren hinunter.

Mit erschütternden Folgen: Fast alle Miskito-Taucher, so Untersuchungen der Weltbank und der Hilfsorganisation Subocean Safety, leiden unter chronischen Krankheiten an Lunge und Gelenken. Bereits 400 Männer blieben halb oder vollständig gelähmt, und weit mehr als 100 Taucher ließen in den vergangenen Jahren ihr Leben. In der Fangsaison kommen monatlich ein bis drei Tote hinzu.


Gefahren und Geister

Aber warum riskieren die besten Taucher der Welt dafür ihr Leben? Warum setzen Tausende unkontrolliert diesen scherenlosen Panzerkrebsen nach, egal in welchen Tiefen die begehrten Krustentiere auch sein mögen? Sind es allein die Dollar-Signale, welche die Langusten mit ihren Antennen senden? Ist es das weiße Fleisch in ihren Schwänzen, für das in New Yorker Restaurants ein kleines Vermögen bezahlt wird?

Es ist das, und es ist mehr. Die Miskito-Indianer von Sandy Bay und den umliegenden Küstengemeinden sind Menschen in einer mystischen Hingabe zum Wasser; sie leben vom Fang der Fische, der Langusten und Garnelen, und sie hatten bis zu deren Ausrottung auch Seekühe gejagt. Ihre Lagunen verehren sie als „kosmische Schönheit“, „Atem der Götter“, „unablässiger Quell der Offenbarung“, heißt es in einem Gedicht aus dem benachbarten Pahra.

Sie besingen den Wind für die Segel, für den sie 25 verschiedene Namen haben. Und ihr Boot ist ihnen ein „Pferd aus Holz, schwimmend und leicht, ein Baum, der zum Fisch wurde, um zu reisen“. Die Männer unter den Segeln reiten darauf hinaus „wie uralte Reisende auf einem im Sterben liegenden Planeten“. Das Sterben nimmt einen wichtigen Platz im Leben der Miskitos ein.

Das Meer ist mythologisch der finale Bestimmungsort der Toten, erläutert der Anthropologe Mario Rizo. Denn der Tod ist nichts als eine „Reise ins Meer“, eine Rückkehr in das Leben spendende Wasser der Mutter, in dem jeder von ihnen einst erschaffen wurde. Im Meer treten die Miskitos nach ihrem Ableben in das andere Sein zurück, in den Schoß „ihrer anmutigen Mutter Yapti Misrika.

Und wer im Meer stirbt, wird von Liwa Mairin auf dieser letzten Reise begleitet. Liwa Mairin ist ein nixenähnlicher Wassergeist, eine „traumhaft schöne Meerjungfrau mit langem Haar und dem Unterleib eines Fisches“.

Doch sie ist eine tückische Begleiterin. Anfangs will sie dich erobern, erzählen die Taucher. Sie schenkt dir alles, was du von ihr willst. Wenn ein Miskito-Taucher mit übergroßen Fängen auftaucht, spricht er kein Wort, doch alle denken, er hat Liwa Mairin gesehen. Diese Schöne ist ein eifersüchtiger Geist. „Wenn du ihr einmal in die Augen geschaut hast, darfst du keine andere mehr mit diesen Augen ansehen“, warnt Roddnie Bodden. „Denn Liwa Mairin wird dich dafür strafen: Erst zerdrückt sie dir die Beine, dann entmannt sie dich.“

Blasenerkrankungen und Lähmungen des Unterleibs werden von vielen Tauchern noch immer als eine Strafe der Nixe angesehen. Roddnie hat Liwa niemals in die Augen gesehen, „aber ich glaube, es ist so. Wenn du mit ihr gesprochen hast, musst du ihr die Treue schwören, sonst bringt sie dich um. Sie zieht deine Seele mit nach unten“. Bei diesen Worten blickt der Alte wieder über die Lagune. Auf das Ufer, wo die Kirche zumindest die Körper der Taucher hinterlegt.


Schwert und Bibel

Die Miskitos haben große Teile ihrer Geisterwelt längst den Weltanschauungen der Siedler und Missionare geopfert. Doch gerade Liwa Mairin erlebt seit einigen Jahren eine Wiedergeburt im Weltbild der Indianer – seit die Zahl der ihnen mysteriös erscheinenden Todesfälle der Langustentaucher so unheimlich wird.

In den Gemeinden am Cabo Gracias a Dios und später in Sandy Bay hatten sich die Miskitos seit dem 17. Jahrhundert mit den afrikanischen Sklaven vermengt, die geflohen oder ausgeliefert an ihren Stränden landeten. Seither sind sie, ethnologisch gesehen, größtenteils Mischlinge, Zambo-Miskitos. Zudem vermischten sie sich mit englischen Piraten, Kariben von Jamaica und den Cayman Islands. Und erstaunlich spät auch mit den Spaniern.

So kommen die Indianer nicht nur zu dunkler Haut und krausem Haar, sondern auch zu einer kuriosen Mischung von Sprach- und Gebietseinflüssen. Ihre miskitischen Gemeinden von Rahuwatla, Tawasakia und Li Daukra liegen heute an der englisch getauften Sandy Bay, hinter den Mangroven der von den Spaniern „entdeckten“ Costa La Mosquitia. Seit 99 Jahren kämpfen sie bereits um Autonomie gegenüber der Zentralregierung von Nicaragua. So nennen immer mehr Miskitos die Hauptstadt ihrer Region nun auch wieder Bilwi statt Puerto Cabezas.

Die miskitischen Segler und Fischer zählten die Tage auf See einst mit Knoten an einer Kordel, bevor englische Korsaren ihnen die Woche brachten. Diese hat auf Miskitisch heute sieben britische Söhne namens mandi, tusdi, wensdi und so weiter. Den sundi erklärte ihnen die Kirche später als Tag der Ruhe. Und er folge stets dem heiligen satadi, an dem der Pastor unter lautem Gebimmel zum hochspanischen culto ruft. Und das ist mehr als das Geläut zum christlichen Betgang.

Im Mai 1847 traf der erste christliche Missionar, der Magdeburger Padre Heinrich Gottlieb Pfeiffer von der Herrnhuter Brüdergemeinde, in Nicaragua ein. Die Kosmovision der Miskitos taten die Herrnhuter, die Teil der Mährischen Kirche sind, schnell als „heidnisches Unwesen“ ab. „Wie bei jeder Missionierung“, schrieb der Chronist Götz Freiherr von Houwald in „Deutsches Leben in Nicaragua“, „bleibt es die unverzeihliche Schuld der Missionare der Brüdergemeinde, Sitten und Gebräuche der Eingeborenen achtlos zerstört zu haben.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 43. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 43

No. 43April / Mai 2004

Von Peter Korneffel und Sophia Evans

Die Miskitos hielten Autor Peter Korneffel, Jahrgang 1962, zunächst für einen Drogenfahnder. Dann fragte ihn jemand: „Sie sind also, verzeihen Sie das Wort, ein Journalist?“ Erst als sich der Reporter zu Schildkrötenfleisch bekannte, zeigten ihm die Miskitos ihre Lagune und ihr Leben.

Bereits seit acht Jahren dokumentiert Sophia Evans das Leben an der Moskito-Küste. Die Londoner Fotografin wuchs in Nicaragua auf. Für ihre Serie über die Miskito-Indianer wurde sie 2002 von dem Kamerahersteller Canon als „Fotojournalistin des Jahres“ ausgezeichnet.

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Vita Die Miskitos hielten Autor Peter Korneffel, Jahrgang 1962, zunächst für einen Drogenfahnder. Dann fragte ihn jemand: „Sie sind also, verzeihen Sie das Wort, ein Journalist?“ Erst als sich der Reporter zu Schildkrötenfleisch bekannte, zeigten ihm die Miskitos ihre Lagune und ihr Leben.

Bereits seit acht Jahren dokumentiert Sophia Evans das Leben an der Moskito-Küste. Die Londoner Fotografin wuchs in Nicaragua auf. Für ihre Serie über die Miskito-Indianer wurde sie 2002 von dem Kamerahersteller Canon als „Fotojournalistin des Jahres“ ausgezeichnet.
Person Von Peter Korneffel und Sophia Evans
Vita Die Miskitos hielten Autor Peter Korneffel, Jahrgang 1962, zunächst für einen Drogenfahnder. Dann fragte ihn jemand: „Sie sind also, verzeihen Sie das Wort, ein Journalist?“ Erst als sich der Reporter zu Schildkrötenfleisch bekannte, zeigten ihm die Miskitos ihre Lagune und ihr Leben.

Bereits seit acht Jahren dokumentiert Sophia Evans das Leben an der Moskito-Küste. Die Londoner Fotografin wuchs in Nicaragua auf. Für ihre Serie über die Miskito-Indianer wurde sie 2002 von dem Kamerahersteller Canon als „Fotojournalistin des Jahres“ ausgezeichnet.
Person Von Peter Korneffel und Sophia Evans