Die Hering-Lüge

Wer hat die Deutungshoheit über die Heringsbestände in der Ostsee?

Vor langer Zeit, als die Weltmeere noch intakt waren, lange bevor es Klimawandel, EU-Fischereipolitik und gigantische Schleppnetze gab, erließ die Regierung der Weimarer Republik wegen eines dramatischen Rückgangs der Heringsbestände ein dreijähriges Fangverbot für die Ostsee. Das war 1928, und schon damals gab es Menschen, die den Hering für beinahe tot erklärten.

Um die drohende Armut von den Fischern abzuwenden, kam der Landrat von Greifswald in Vorpommern auf eine Idee: Die in der Netzfertigung bewanderten Fischer und ihre Frauen sollten Teppiche knüpfen und so ihren Verdienst aufbessern. Ein in der orientalischen Teppichknüpfkunst erfahrener Mann reiste an die Ostseeküste in das kleine Fischerdorf Freest, ließ Knüpfstühle bauen, die in die niedrigen Fischerhütten passten, und unterrichtete fortan die Einwohner in der Kunst der Teppichfertigung. Die so entstandenen Werke mit Seemöwen und Stranddisteln, Koggen und natürlich Fischen als Motive gingen in die Geschichte des Handwerks als „Freester Teppiche“ ein und waren bald begehrt. Auch Himmler und Hitler sollen einige Jahre später einen gekauft haben.

Heute hängen die Teppiche von Freest in der „Heimatstube“ des 700-Einwohner-Dorfs, das am Peenestrom liegt, und die Hände, die wissen, wie man sie knüpft, sind wenige geworden. Die Armut aber, die die Teppiche abwenden sollten, liegt, wenn man den Freester Fischern glaubt, noch immer wie eine drohende Sturmwolke über dem Meer. 90 Jahre nach der Reichsregierung hat die EU-Kommission im Herbst 2018 erneut den Hering, genauer gesagt: den frühjahrslaichenden Hering der westlichen Ostsee, als gefährdet eingestuft und dessen Fang zwar nicht verboten, aber die Menge der Fische, die in diesem Jahr aus dem Meer geholt werden dürfen, um 48 Prozent verringert. Seither scheint der von den Freestern bereits vor zehn Jahren als Transparent aufgehängte Hilferuf „Rettet die Fischerei in Mecklenburg-Vorpommern“ brandaktuell. Freest und mit ihm die kleinen Fischereihäfen entlang der westlichen Ostseeküste stehen für den schon lange währenden Kampf zwischen Forschern und Umweltschützern auf der einen und Interessenverbänden und Fischern auf der anderen Seite über die Frage: Wer hat die Deutungshoheit über die Bestände im Meer?

Es ist eine Frage, die nicht nur für die Zukunft der Meere entscheidend ist, sondern auch viel über den Zustand der Gesellschaften erzählt: über Gier und Gleichgültigkeit, Lobbyismus und Profitdenken, über verhärtete Ideologien und aufgeweichte Verantwortung.

Weltweit sind heute Großkonzerne und Regierungen an der Ausbeutung der Meere beteiligt. Immer größer werden die Schiffe, immer riesiger die Netze, die über den Meeresboden geschleift werden. Für die Fischereiindustrie in der EU fahren 85 000 Schiffe, die meisten davon mit riesigen EU-Subventionen erbaut oder modernisiert. Die Branche beschäftigt in Europa 126 000 Menschen und erzielt einen Jahresumsatz von 23 Milliarden Euro.

Doch es sind nicht die Großkonzerne, die jetzt am westlichen Hering hängen wie an einem seidenen Faden. Es sind die kleinen Fischereibetriebe entlang der deutschen Ostseeküste, für die die neue Quote womöglich das Aus bedeutet.

1925 zählte man in Freest 462 Einwohner, davon waren 111 Fischer, drei Bootsbauer, zwei Landwirte und vier Kaufleute. Vor 20 Jahren gab es 80 Fischer, vor zehn Jahren 60, und heute gehören zur Freester Flotte nur noch 22 Unternehmen mit 24 Fischern und gerade einmal 50 Kuttern. Die meisten der Kutter haben schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel, der älteste wurde 1955 gebaut. „Den Fischern fehlt das Geld für Modernisierungen oder Neukäufe, ohnehin gibt es keinen Nachwuchs mehr, für den sich das Investieren lohnt. Wie man glauben kann, dass eine solche Flotte die Meere leer fischen soll, das verstehe ich nicht“, sagt Michael Schütt, Geschäftsführer der Freester Fischereigenossenschaft „Peenemündung“. Die Sache mit dem gefährdeten Heringsbestand? „Totaler Unsinn. Wir fangen in immer kürzerer Zeit immer mehr Fisch.“

Die Geschichte über den Hering und seine Fischer, die hier erzählt wird, beginnt lange vor dem Herbst 2018, in dem die EU-Kommission wie in jedem Herbst die Fangquoten für das kommende Jahr festlegte. Vielleicht beginnt sie bereits, als das Ökosystem der Meere sich festigte und dem Hering in der Ostsee eine zentrale Stellung darin zukam. Oder sie beginnt im Mittelalter, als der Hering zum Exportschlager der Hanse wurde und man sich die Fische mit Gold aufwiegen ließ.


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mare No. 135

No. 135August / September 2019

Von Andrea Jeska

Andrea Jeska, Jahrgang 1964, Autorin im ostholsteinischen Cismar, kann sich noch gut an ihre Großmutter erinnern. Sie arbeitete in der Fischindustrie und brachte jeden Freitag lebende Speisefische nach Hause, die sie mit einem gezielten Genickschlag tötete. Weil Jeska die Tiere leidtaten, versteckte sie sie einmal unter ihrem Bett in einer Wasserschüssel. Mit übel riechenden Folgen.

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Vita Andrea Jeska, Jahrgang 1964, Autorin im ostholsteinischen Cismar, kann sich noch gut an ihre Großmutter erinnern. Sie arbeitete in der Fischindustrie und brachte jeden Freitag lebende Speisefische nach Hause, die sie mit einem gezielten Genickschlag tötete. Weil Jeska die Tiere leidtaten, versteckte sie sie einmal unter ihrem Bett in einer Wasserschüssel. Mit übel riechenden Folgen.
Person Von Andrea Jeska
Vita Andrea Jeska, Jahrgang 1964, Autorin im ostholsteinischen Cismar, kann sich noch gut an ihre Großmutter erinnern. Sie arbeitete in der Fischindustrie und brachte jeden Freitag lebende Speisefische nach Hause, die sie mit einem gezielten Genickschlag tötete. Weil Jeska die Tiere leidtaten, versteckte sie sie einmal unter ihrem Bett in einer Wasserschüssel. Mit übel riechenden Folgen.
Person Von Andrea Jeska