Ironischerweise lehrt man uns, dasS Wasser Leben gebiert und Leben trägt, sofern wir uns ihm gegenüber richtig verhalten. Beim Schwimmen zum Beispiel. Das Schwimmen entpuppt sich beim Nachdenken darüber als ein komplexes Phänomen, weit über eine bloße Kulturtechnik hinaus: Es ist nicht nur Sport und Bewegung, sondern auch Philosophie, Kontemplation, Routine, Suchen und Finden. In der Antike galt Schwimmen so viel wie das Lesen, ehe es in Vergessenheit geriet und die Vorsicht überhandnahm. Im 19. Jahrhundert wurde es dann zu einer Obsession von Adligen und Exzentrikern – Fischer und Seeleute dagegen konnten und wollten nicht schwimmen.
Schwimmen ist kein Badespaß. Die Faszination für das Schwimmen, die in der Literatur so oft ihren Niederschlag findet, wurde während die Pandemie wieder ins Licht der Aktualität gerückt, bot doch die Freiheit gerade der offenen Gewässer während jener Zeit einen sicheren und einzigartigen Zufluchtsort in der Natur und unter freiem Himmel. Gegen den Lockdown stand die Weite des Wassers. Kaum war der gebotene Abstand besser zu wahren als auf einem See und erst recht im Meer, über das der kräftige Wind zog.
Die Essenz des Schwimmens reicht weit über das hinaus, als was es uns auf den ersten Blick erscheint. Ursprünglich als Überlebensfertigkeit kultiviert, hat es sich im Lauf der Jahrhunderte zu einer Vielfalt an Bedeutungen weiterentwickelt: zu Abenteuer, Sport, Kunst und schließlich zu einem Akt der Selbstfindung. In unzähligen literarischen Werken ist Schwimmen nicht nur eine Nebenhandlung, sondern ein wesentlicher Dreh- und Angelpunkt, der metaphorische wie handlungsleitende Elemente trägt.
Werfen wir zunächst einen Blick in die zeitgenössische Literatur. Die Reflexionen der Hamburger Autorin Kristine Bilkau über das Schwimmen in ihrer Sammlung „Wasserzeiten“ finden in der Zeit der Pandemie ihren Ausgangspunkt. Als die öffentlichen Badeanstalten geschlossen waren, spürte Bilkau, was fehlte. Ihre Erzählungen offenbaren die individuelle Magie, die jeder Schwimmer, jede Schwimmerin auf eigene Weise erlebt – allem voran der unwiderstehliche Sog, die Verheißung jeder Wasserfläche. Zsuzsa Bánk zeichnet in ihrem Erstling „Der Schwimmer“ das Porträt einer durch politische Umstände getrennten Familie im Ungarn der Nachkriegszeit. Der Protagonist, ein begnadeter Athlet, wird zum Symptom und Symbol der Sehnsucht nach Freiheit, die er nur im Schwimmen findet. Gleichzeitig wird das Wasser zur Todesfalle, es erfüllt die Verheißungen nicht. John von Düffels „Vom Wasser“ wiederum verwebt persönliche und familienhistorische Erzählungen mit dem Element. Von Düffel nutzt in vielen Texten und Büchern das Wasser als Metapher für die beständigen Strömungen des Lebens selbst; für ihn bedeutet Schwimmen, das Wasser lesen zu lernen. Bei Caroline Wahl hingegen wird die Kontinuität zum Buchtitel, „22 Bahnen“ schwimmt die Protagonistin täglich.
Diese literarischen Zeugnisse zeichnen ein vielschichtiges Bild von Schwimmen als Erfahrung, die von tiefer persönlicher Freiheit bis hin zu Darstellungen von Isolation, Transformation und Erneuerung reicht – in bisweilen stupender Beiläufigkeit. Für den Journalisten Alexander Solloch ist Schwimmen daher die „bewegendste, spannendste, dramaturgisch sinnvollste Zwischendurchtätigkeit“.
Das sind zeitgenössische Werke, die explizit das Schwimmen zum Thema haben. Aber sie schweben auf einer Welle anderer Werke der Weltliteratur, und vor allem spielen die je eigenen Erfahrungen eine Rolle. Goethe war ein passionierter Schwimmer, Lord Byron sowieso, Siegfried Unseld, Hans Traxler, Martin Walser, um nur einige zu nennen. Viele Künstlerinnen und Künstler verbindet die Obsession mit dem Bahnen durchs Wasser; in ihren Werken haben sie ihre Leidenschaft verarbeitet. Lord Byron durchschwamm, Leander gleich, die Dardanellen, im Wasser beeinträchtigte ihn seine Behinderung nicht. Er schwamm über den Tejo und vom Lido zum Canal Grande, Goethe schrieb ihm, im zweiten Teil des „Fausts“, den Jüngling Euphorion zu. „Dem Leben frommt die Welle besser; / Dich trägt in’s ewige Gewässer / Proteus-Delphin. [Er verwandelt sich.] Schon ist’s gethan! / Da soll es dir zum schönsten glücken, / Ich nehme dich auf meinen Rücken, / Vermähle dich dem Ocean.“ Vielleicht dachte er bei diesen Zeilen an den von ihm verehrten Byron, den Wagemutigen, der sich selbst mutig mit dem Ozean verbunden hat, als Überlebenselixier und Aphrodisiakum einer ambivalenten und gekränkten Seele. Franz Kafka flehte in großer Bedrängnis nach einer ärztlichen Diagnose, die ihm das Schwimmen untersagte, in einem Brief an Felice Bauer: „Nicht schwimmen, das geht nicht.“ In seinen Denktagebüchern schrieb Paul Valéry deswegen konsequent, das Eintauchen ins Meer bedeute, „die göttliche Salzigkeit trinken und ausatmen“, und nicht nur das, denn „dieses Spiel gleicht für mich der Liebe“.
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Der Publizist und promovierte Kulturwissenschaftler Martin Lätzel, geboren 1970, ist Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel. Ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, wohnt er aus Leidenschaft seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Ostsee. Zuletzt schrieb er in mare No. 126 einen Essay über die Frage, „warum die See für uns göttlich ist“.
Vita | Der Publizist und promovierte Kulturwissenschaftler Martin Lätzel, geboren 1970, ist Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel. Ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, wohnt er aus Leidenschaft seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Ostsee. Zuletzt schrieb er in mare No. 126 einen Essay über die Frage, „warum die See für uns göttlich ist“. |
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Person | Von Martin Lätzel |
Vita | Der Publizist und promovierte Kulturwissenschaftler Martin Lätzel, geboren 1970, ist Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel. Ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, wohnt er aus Leidenschaft seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Ostsee. Zuletzt schrieb er in mare No. 126 einen Essay über die Frage, „warum die See für uns göttlich ist“. |
Person | Von Martin Lätzel |