Die Geschichte des amerikanischen Walkampfs

Die intensive Lektüre von „Moby-Dick“ offenbart, dass es sich hierbei nicht nur um einen Abenteuerroman handelt. Er erweist sich auch als hochpolitisches Bekenntnis zur jungen USA

Herman Melvilles „Moby-Dick; or, The Whale“ ist zunächst einmal das Buch der Missverständnisse. Der Autor war daran selbst nicht unschuldig. Seinem Verleger hatte Melville 1850 versprochen, was da komme, sei ein „Abenteuerroman, gegründet auf gewissen wilden Legenden, wie sie bei den Pottwalfängern der Südsee in Umlauf sind, und illustriert von den persönlichen Erfahrungen des Autors“. Auf persönliche Erfahrungen durfte sich Melville zwar zu Recht berufen, schließlich war er unter aufregenden Umständen zur See gefahren und hatte von diesen Jahren auch schon in seinen vorangegangenen Büchern „Redburn“ und „White-Jacket“ erzählt. Aber ein Abenteuerroman? Diese Bezeichnung war abenteuerlich, ein glatter Etikettenschwindel sogar. Wer sich auf die Lektüre des 1000-seitigen Buches einlässt, merkt rasch, dass der Autor kaum die Absicht hatte, seine Leser durch dramatisches Geschehen und äußere Spannung zu fesseln.

Die Geschichte selbst lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Es geht um einen weißen Wal, der von Kapitän Ahab wegen einer unbeglichenen Rechnung über die Meere gejagt wird, dabei die längste Zeit eine Schimäre bleibt und erst zum Ende des Romans seine mächtige Schwanzflosse aus den Fluten des Pazifiks erhebt, um die „Pequod“ samt ihrer unseligen Besatzung in die Tiefe zu reißen.

Erst auf hoher See war der wahre Zweck dieser Fahrt bekannt gegeben worden. Ein irrwitziges Unterfangen: An Bord sind geübte und berufsmäßige Walfänger – den Auftrag aber, ein bestimmtes Tier zu finden und zu erlegen, ein Tier mit einem eigenen Namen, hat zuvor noch keiner von ihnen erhalten. Diese Mission überschreitet die Grenzen von Vernunft und Ökonomie. Es geht hier um die Begleichung einer persönlichen Rechnung, schließlich hat Kapitän Ahab bei einem früheren Versuch, den weißen Wal zu harpunieren, ein Bein verloren. Diesmal geht es für alle tödlich aus.

Zumindest beinahe. Ismael, ein einfacher Matrose, hat den Schiffbruch als Einziger überlebt, er ist der Icherzähler des Romans. Doch ist sein Bericht von gänzlich anderer Art als die Abenteuerromane und Reiseberichte, die im 19. Jahrhundert das Fernweh einer großen Leserschaft nährten. Ismaels ausufernde Erzählung verläuft wie die schlingernde Fahrt des Walfängerschiffs. Der Erzähler verliert sich in metaphysischen, mythologischen und naturwissenschaftlichen Spekulationen und schöpft dabei aus dem Alten Testament und einem umfassenden Bibliothekswissen, das sich sein Schöpfer Melville nach langen Wanderjahren in mühsamer Lektüre angeeignet hatte. Kaum verwunderlich also, dass der Autor mit diesem monströsen Buch die Erwartungen des Verlegers und Publikums enttäuschte.

Der berühmteste und wichtigste Roman, den die amerikanische Literatur je hervorgebracht hat, war zu seiner Zeit ein Ladenhüter. Nicht einmal die bescheidene Auflage von 3000 Stück sollte sich bis zu Melvilles Tod 1891 verkaufen. Überhaupt hat der Schriftsteller mit all seinen Büchern zusammengenommen kaum mehr als 10 000 Dollar verdient. Er, der neben Mark Twain aus der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts herausragt, blieb seinen Zeitgenossen weitgehend verborgen.

Heute ist Moby Dick jedem Kind ein Begriff. Der weiße Wal ist das prominenteste Tier der Weltliteratur. Der Stoff ist vielfach vertont worden, mal in Kantatenform, mal als Led-Zeppelin-Rocksong, er wurde für Kinder- und Jugendbücher zurechtgestutzt, als Comic gezeichnet und mehrmals verfilmt. Niemand hat das Bild des Kapitän Ahab wohl so geprägt wie Gregory Peck in John Hustons Romanverfilmung aus dem Jahr 1956. Und überhaupt werden die meisten, die sich unter dem Buch etwas vorstellen zu können glauben, den Originaltext kaum kennen; die Lektüre stellt auch nach 150 Jahren eine Herausforderung dar. Trotzdem ist Moby Dick überall. Keine amerikanische Hafenstadt, wo es nicht ein Fischrestaurant dieses Namens gäbe, und auf welcher Nordinsel kann man sich nicht in „Käpten Ahabs Eck“ betrinken? Auf den Kanälen der Kopenhagener Altstadt schließlich verkehrt das Ausflugsboot „Moby Dick“, in Teheran heißt so ein Kebablokal.

Über solche maritime Folklore hinaus zeigt eine weltweit sich rasant ausbreitende Kaffeehauskette, wofür Melvilles Roman ganz grundsätzlich und modellhaft steht: Es ist die Idee einer epidemischen Globalisierung. Starbucks ist nach dem Ersten Steuermann an Bord der „Pequod“ benannt, und so wie Melvilles Walfänger ihren Jagdzug über alle Ozeane treiben, segelt auch dieser Konzern unter der Flagge flächendeckender Eroberung.

Moby Dick ist omnipräsent und als Metapher überaus flexibel. Als George W. Bush nach „9/11“ klarstellte, wie die Terroristen nun zu fangen und zu behandeln seien, wurde er zum Zwilling des manischen Ahab: Sein Ziel, so der Präsident, sei es, die Terroristen „auszuräuchern, in die Flucht zu schlagen und schließlich der Gerechtigkeit zuzuführen“. Edward Said, der in den USA lehrende palästinensische Literaturwissenschaftler, erkannte „Moby-Dick“ damals als Logbuch der neuen Kriegspropaganda. Osama bin Ladens Name und sein Gesicht, so schrieb Said im Londoner „Observer“, seien der amerikanischen Öffentlichkeit zu Synonymen alles Hassenswerten geworden. So habe man die kollektive Leidenschaft für einen Krieg leicht mobilisieren können: „eine schaurige Parallele zu Kapitän Ahab und seiner Jagd auf den Wal, die wenig mit dem tatsächlichen Geschehen zu tun hat: dass nämlich eine Weltmacht, zum ersten Mal auf eigenem Boden angegriffen, systematisch in einer jäh veränderten Konfliktgeografie verfolgt“.


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mare No. 82

No. 82Oktober / November 2010

Von Ronald Düker und Rockwell Kent

Roland Düker, Jahrgang 1970, ist Kulturwissenschaftler und Redakteur der Zeitschrift „Literaturen“ in Berlin. Sein akademisches Interesse an Melville rührt von einer verstümmelten „Moby-Dick“-Jugendbuchfassung.

Der New Yorker Rockwell Kent (1882–1971) war einer der führenden Buchillustratoren der USA. Seine holzschnittartige Grafik prägte jahrzehntelang auch Magazine wie Harper’s Weekly, Life und Vanity Fair.

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Vita Roland Düker, Jahrgang 1970, ist Kulturwissenschaftler und Redakteur der Zeitschrift „Literaturen“ in Berlin. Sein akademisches Interesse an Melville rührt von einer verstümmelten „Moby-Dick“-Jugendbuchfassung.

Der New Yorker Rockwell Kent (1882–1971) war einer der führenden Buchillustratoren der USA. Seine holzschnittartige Grafik prägte jahrzehntelang auch Magazine wie Harper’s Weekly, Life und Vanity Fair.
Person Von Ronald Düker und Rockwell Kent
Vita Roland Düker, Jahrgang 1970, ist Kulturwissenschaftler und Redakteur der Zeitschrift „Literaturen“ in Berlin. Sein akademisches Interesse an Melville rührt von einer verstümmelten „Moby-Dick“-Jugendbuchfassung.

Der New Yorker Rockwell Kent (1882–1971) war einer der führenden Buchillustratoren der USA. Seine holzschnittartige Grafik prägte jahrzehntelang auch Magazine wie Harper’s Weekly, Life und Vanity Fair.
Person Von Ronald Düker und Rockwell Kent