Die Gescheiterten von Kap Horn

Die Falkland-Inseln sind der Schiffsfriedhof des Südatlantiks. Früher dienten die Wracks als Lager, heute als Fotomotiv

So ruhig hatte Käpten Carver Kap Horn lange nicht erlebt. Der Wind blies zwar frisch von Nordwest, aber die See zeigte sich ungewöhnlich friedlich. Seine achtzig Meter lange „St. Mary“, ein stabiler Neubau aus Eiche und Yellow Pine, hielt unter gerefften Topsegeln südwärts, in sicherem Abstand vom Kap. Auf ihrer Jungfernfahrt von New York nach San Francisco hatte sie unter anderem Kinderspielzeug für den Weihnachtsmarkt geladen. Rumpf und Rigg – die Takelage – war alles, was sie war.

Statt Dampfkesseln, rotierender Motorteile und Kohlestauräume besaß sie feine Segeleigenschaften. Eine gute Brise schüttelte problemlos zwölf Knoten aus dem dreimastigen Rigg. Unterm Mondlicht glitt die „St. Mary“ durch Kap Horns winterliche Ödnis, und Käpten Carver stieg zu einem Nickerchen unter Deck. Doch die Ruhe trog. Am 6. August 1890 war die Ödnis belebter als sie schien. Zehn weitere Windjammer spulten in dieser Nacht südlich des Horns westwärtige Meilen ab. Auch auf dem Kurs: die britische Bark „Magellan“. Niemand ahnte, dass es ein Kollisionskurs war.

Um ein Uhr früh rammte die „Magellan“ das Achterschiff der „St. Mary“ und sank mit Mann und Maus. Der „St. Mary“ bohrten sich das Besanrigg, die Hauptrahe und die Topmasten ins Deck. Bei Tageslicht inspizierte Carver den schwer beschädigten Rumpf, ließ lästige Riggteile kappen und den Bug bei vorteilhaftem Wetter weiter West pressen. Am Abend aber wandte sich endgültig sein Schicksal. Ein seit Tagen überfälliger Kap-Horn-Sturm setzte ein, dann ein zweiter. Jetzt pumpte die Besatzung um ihr Leben. Bald ließ ihm der Erschöpfungszustand seiner Crew nur eine Wahl: zu den Falkland-Inseln abzulaufen, etwa 350 Meilen zurück nach Nordosten.

Drei Tage später näherte sich die „St. Mary“ der flachen, baumlosen und unaufhörlich vom Wind gekämmten Südostküste der Falklands. Von See kommend ist sie beinahe unsichtbar, selbst modernes Radar weist sie nicht immer aus. Um Port Stanley, den sicheren Hafen, nicht zu missen, beauftragte Carver seinen Steuermann, nördlicher zu halten und ihn nach zwei Stunden zu rufen.

Daraufhin ging alles sehr schnell. Erst erfühlte der Zimmermann mit einer in vielen Seejahren geschliffenen Intuition durch die Nacht die Nähe der Küste. Doch Intuition ist keine navigatorische Disziplin, der Offizier am Ruder missachtete die Warnung des Handwerkers. Dann erspähte der Zimmermann vorne Brecher, doch sie zu kommunizieren dauerte die volle Länge der „St. Mary“. Zu lange. Just als der Käpten, ein zweites Mal um Momente zu spät, das Deck erklomm, nahm das Schiff Boden. Dreißig Seemeilen südlich Stanleys verwandelte sich die „St. Mary“ im Laufe einer Nacht von einer Bark auf Jungfernreise in ein langlebiges Wrack. „Spielzeug-Wrack“ heißt es seither. Jedem Kind der Falklands stand 1890 ein gusseiserner Zug auf dem Weihnachtstisch.

Ob „Spielzeug-“, „Schaukelstuhl-“, „Zedern-“ oder „Whiskey-Wrack“ – das berüchtigte Kap Horn war den Falkländern ein makaberer Weihnachtsmann. Der Seefahrt war es Knotenpunkt mit einer erstaunlichen Verkehrsdichte. Mindestens 400 Segelschiffe befanden sich Ende des Jahrhunderts jederzeit auf direktem Kurs zum Horn. Bis zu 14 passierten es täglich – oder versuchten es. Kap Horn war brutale See, fast unaufhörlicher Weststurm, deprimierender Gegenstrom und jahraus, jahrein Bestimmungsort einer zähen Gefolgschaft: der Kap Horniers.

Eine Kap-Horn-Umrundung unter Tuch, Teil immenser Seereisen ab Hamburg oder Liverpool, begann auf 50. Breite Süd, mit Südkurs, und endete auf derselben Breite, mit Nordkurs, 1500 Seemeilen später auf der anderen Seite des Kontinents. Nur das nummerische Déjà-vu, zweimal 50 Süd nonstop, qualifizierte für den erlauchten Kreis der Kap Horniers, Katzensprünge galten nicht. Dazwischen, auf 56ster Breite, waltete das Kap.

Dort unten kämpften die Segler, praktisch kommunikationslos, ihren einsamen Kampf gegen die Stürme, manchmal für Monate, oft nicht weit vom Eis. Die wirren Kurse südlich des Kaps hinterließen absurde Grafiken auf den Seekarten der Kapitäne. Bis zu 80 Tage haben manche sich und ihr Schiff hier wund scheuern lassen, ebenso unnachgiebig wie das Kap.

Insbesondere die westwärtigen Rundungen drangen jedem Schiff in die Planken. Meist überladen, ging es mit leicht entzündbarem Anthrazit oder Steinkohle von England nach den Westküstenhäfen Nord- und Südamerikas. Ähnlich delikat war die Fahrt menschlicher Glücksritter, zum Goldrausch nach Kalifornien unterwegs. Versprachen Routen wie die von den Reeden Westchiles zum hungrigen Europa achterlichen Wind, drohte Gefahr von ätzendem Guano, Nitraten oder Kupfererz. Mit Getreide aus Australien im Rumpf war es leichter, aber nie ein Kinderspiel. Kap Horns Wetter nahm selten eine Pause.

Not liierte Kap Horn mit den Falklands. Flach gebeugt und windgepeinigt stiehlt sich deren südliche Küste zu einer gebuckelten Existenz aus dem Meer. Nichts Grandioses haftet an dieser Anlaufstation der Gescheiterten. Generationen von Wracks säumen die Küsten, zumeist unter, aber auch über Wasser. Ein jedes beendet hier aus den unterschiedlichsten Gründen seinen ganz eigenen Kampf mit dem stolzen Kap: von Stürmen gebeutelt, mit gebrochener Takelage, entzündeter Kohlefracht, fortgeschwemmten Decksbauten und erschöpften Mannen an den Pumpen. Resümee: Niederlage.


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mare No. 20

No. 20Juni / Juli 2000

Von Thies Matzen

Thies Matzen, Jahrgang 1956, ist Weltenbummler und Journalist und befährt seit 1980 mit seiner Segelyacht „Wanderer III“ die Weltmeere. Bei finanziellem Bedarf arbeitet er in seinem erlernten Beruf, als Bootsbauer

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Vita Thies Matzen, Jahrgang 1956, ist Weltenbummler und Journalist und befährt seit 1980 mit seiner Segelyacht „Wanderer III“ die Weltmeere. Bei finanziellem Bedarf arbeitet er in seinem erlernten Beruf, als Bootsbauer
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Vita Thies Matzen, Jahrgang 1956, ist Weltenbummler und Journalist und befährt seit 1980 mit seiner Segelyacht „Wanderer III“ die Weltmeere. Bei finanziellem Bedarf arbeitet er in seinem erlernten Beruf, als Bootsbauer
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