Die Frau, die Hooge zur Welt brachte

Anni Both war fast drei Jahrzehnte lang Hebamme auf der Hallig Hooge. Ihre Erinnerungen erzählen eine vielhundertfache Geschichte von Leben­ und Sterben auf einer Insel

Anni Both drückt die „Play“-Taste ihres blauen Kassettenrekorders. Er steht auf der Kommode unter dem Bücherregal in ihrer Wohnung in Tönning. Die Bücher sind kaum zu sehen, sie hat Familienfotos davor aufgereiht: Hannes, ihr verstorbener Mann, die Tochter Anke, Herbert, der Sohn, die Enkel und Urenkel. Es knistert, die Kassette ist mehr als 30 Jahre alt. Erst hört man das Akkordeon, dann beginnt Hannes das alte Volkslied für sie zu singen. „Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten. / Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr. / So hört’ ich oft schon von alten Leuten. / Und seht, von denen weiß ich’s her“, und Anni Both mit ihrem schönen Sopran singt mit.

Wenn man sie fragt, welche Zeit in ihrem Leben die glücklichste war, dann sagt die 83-Jährige: „Als Hannes und ich gerade jung verheiratet waren. Wir waren so unbeschwert. Ich würde aber lieber ,die zufriedenste Zeit‘ sagen.“ Übertreibungen liegen ihr nicht, Anni Both ist Hoogerin, geboren und aufgewachsen auf Deutschlands zweitgrößter Hallig. Hooger machten nie viel Aufhebens um etwas, sei es Glück oder Leid. „Halligleute sind keine Jaulsusen“, sagt Anni Both. Die Frauen dort würden nicht einmal schreien, wenn sie Kinder gebären. Sie weiß das, weil sie 27 Jahre lang auf Hooge als Hebamme gearbeitet hat, von 1957 bis 1984. Und da es auf der Hallig weder Arzt noch Gemeindeschwester, keinen Bestatter und keinen Apotheker gab, übernahm sie einen Großteil dieser Aufgaben gleich mit. Außer dem Pastor ist auf Hallig Hooge wohl kaum jemand den Menschen so nahe gekommen wie sie. Dabei wollte sie die Ausbildung zur Hebamme zuerst gar nicht antreten.

Wäre sie ein paar Jahrzehnte später geboren, hätte Anni Both vielleicht das Internat in Husum besucht, Abitur gemacht und studiert. „Ich wollte immer nur lernen“, sagt sie. „Dass ich nur zur Volksschule gehen konnte, hängt mir bis heute nach.“ Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, ist sie elf Jahre alt, das zweitjüngste von fünf Geschwistern. Eigentlich habe die Mutter nach dem dritten Kind nicht mehr schwanger werden wollen, und dann kam sie – auch noch ein Mädchen.

Bei Kriegsende ist die Hallig fast eine reine Fraueninsel. Die 17-jährige Anni muss der Mutter helfen, das Vieh zu versorgen. Einen Beruf lernt keine der jungen Halligfrauen in ihrem Alter. Anke, Edith, Helga, Bruni, Elke, Hilla – sie alle halten, so gut es geht, nach dem Krieg das Leben auf der Hallig am Laufen. Mehr als die Hälfte der Männer ist gefallen, die anderen kehren erst nach Jahren aus den Gefangenenlagern zurück, auch Hannes, ihr späterer Mann. Hannes kam von Pellworm. Als sie ihn zum ersten Mal traf, im Sommer 1950, da habe sie ihm die Pest an den Hals gewünscht, sagt Anni Both und lacht, dass ihre hellblauen Augen glänzen. Als junge Frau verkauft sie Andenken am Hafen, wenn ein Ausflugsdampfer anlegt, kleine Möwenbroschen aus Bakelit, silberne Friesenketten. An einem dieser Sommertage machen drei junge Männer auf dem Weg zurück zum Schiff vor ihrer Bude Halt. „Die haben auf jedes einzelne Stück gezeigt und gefragt, was das kostet. Und sich dabei die ganze Zeit angegrinst. Natürlich haben sie nichts gekauft.“ Es sind Pellwormer, sie erkennt sie an ihrem Platt. Fallt doch in den nächsten Graben!, denkt sie wütend.

Ein halbes Jahr später soll im Gasthof Fasching gefeiert werden, das erste Mal seit dem Krieg. „Da kommen drei Brüder von Pellworm, die Musik machen“, erzählen sich die Leute. Hannes, den Schlagzeuger, erkennt Anni sofort. Gut sieht er aus, findet sie, jetzt wo sie ihn genauer anschaut: groß, die dunklen Haare mit Pomade nach hinten gekämmt. Einmal spielt die Kapelle ohne ihn weiter, da fordert er sie zum Tanzen auf. Er bringt sie nach Hause. Als er sie fragt, ob er ihr schreiben dürfe, sagt sie ja.

An einem stürmischen Novembertag 1951, die halbe Hallig steht unter Wasser, heiraten sie. Sie wohnen auf der Backenswarft, in einem roten Backsteinhaus mit Reetdach und Butzenfenstern. Die weiß-blauen Kacheln im Flur erzählen Geschichten aus der Bibel. Hannes bekommt die Poststelle auf Hooge. Er ist oft krank. Seit dem Krieg sitzen 39 Granatsplitter in seinem Rücken fest. Immer, wenn sich einer löst, kann er Arme und Beine kaum bewegen. Er muss operiert werden, beinahe jedes Jahr. Ihr erstes Kind, Herbert, kommt im Sommer 1952 zur Welt. Bei den Boths wohnt gerade eine Hebamme aus Berlin, ein Feriengast. Sie kochen die Haushaltsschere und ein Wäscheband aus dem Nähkasten ab, um die Nabelschnur durchzutrennen. Die Nachgeburt kommt in die gute Obstschale. 1956 bringt sie ihre Tochter Anke so gut wie allein zur Welt. Die zuständige Hebamme von Pellworm erreicht die Warft, als das Baby schon fast da ist.


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mare No. 106

No. 106Oktober / November 2014

Von Silvia Tyburski und Theodor Barth

Anni Both ist vor Kurzem verstorben. Sie hatte ihren Kindern gesagt, wie sehr sie sich darauf freue, ihren Mann wiederzusehen.
Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, lebt als freie Journalistin in Hamburg. Anni Boths Plattdeutsch hat sie gut verstanden: Während des Studiums hatte sie als Lokalreporterin in Nordniedersachsen viele Schützenfeste und diamantene Hochzeiten besucht.

Der Fotograf Theodor Barth, Jahrgang 1964, lebt in Köln. Er arbeitet für nationale und internationale Magazine und Zeitungen sowie für Verlage und Stiftungen. Die Begegnung mit Anni Both zeigte ihm, wie ein entbehrungsreiches Leben doch auch ein sehr erfülltes sein kann.

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Vita Anni Both ist vor Kurzem verstorben. Sie hatte ihren Kindern gesagt, wie sehr sie sich darauf freue, ihren Mann wiederzusehen.
Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, lebt als freie Journalistin in Hamburg. Anni Boths Plattdeutsch hat sie gut verstanden: Während des Studiums hatte sie als Lokalreporterin in Nordniedersachsen viele Schützenfeste und diamantene Hochzeiten besucht.

Der Fotograf Theodor Barth, Jahrgang 1964, lebt in Köln. Er arbeitet für nationale und internationale Magazine und Zeitungen sowie für Verlage und Stiftungen. Die Begegnung mit Anni Both zeigte ihm, wie ein entbehrungsreiches Leben doch auch ein sehr erfülltes sein kann.
Person Von Silvia Tyburski und Theodor Barth
Vita Anni Both ist vor Kurzem verstorben. Sie hatte ihren Kindern gesagt, wie sehr sie sich darauf freue, ihren Mann wiederzusehen.
Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, lebt als freie Journalistin in Hamburg. Anni Boths Plattdeutsch hat sie gut verstanden: Während des Studiums hatte sie als Lokalreporterin in Nordniedersachsen viele Schützenfeste und diamantene Hochzeiten besucht.

Der Fotograf Theodor Barth, Jahrgang 1964, lebt in Köln. Er arbeitet für nationale und internationale Magazine und Zeitungen sowie für Verlage und Stiftungen. Die Begegnung mit Anni Both zeigte ihm, wie ein entbehrungsreiches Leben doch auch ein sehr erfülltes sein kann.
Person Von Silvia Tyburski und Theodor Barth