Die Flucht, der Fluch und der Flug

Der Sturz des Ikarus ins Meer. Woran es lag

Die Unschuldsmiene der See zeigt keine Regung. Es ist windstill. In der Ferne schimmert der Küstenstreifen mit seiner Postkartenkulisse. Wasser und Himmel konzentrieren sich auf die Quadratur des Blaus, das sich auf die Tragödie gelegt hat wie eine glänzende Schicht. Genau hier, vor der Küste von Ikaria, hätte sie stattfinden können: die erste Flugschreiberauswertung der Weltgeschichte, die den ersten Flugzeugabsturz überhaupt dokumentiert, den Ursprung aller technischen Katastrophen und technologischen Träumereien. Das Opfer: der sagenhafte Vorfahr des Otto Lilienthal. Die Zeit: irgendwann im mythischen Dunkel, denn die griechische Geschichtenwelt hat den Gott Kronos noch nicht zu einem Daten-Statisten degradiert, der Jahre, Jahrhunderte oder Jahrtausende wie Erbsen zählt.

Und die Art der Berichterstattung ist auch eine andere, eine märchenhafte, in der es nicht etwa heißt: „Nach dem Start von der Insel Kreta geriet der Flieger über dem Ikarischen Meer plötzlich außer Kontrolle. Die Maschine erreichte aus unerklärlichen Gründen eine Flughöhe, für die ihre Tragflächenkonstruktion nicht ausgelegt war. Reibungs- und Sonnenhitze lösten die mit Wachs zusammengehaltenen Federn. Der Absturz war unvermeidlich.“

Der nächste Flughafen wäre heute zwar nur 40 km entfernt, auf Samos; doch damals konnten die Mayday-Rufe weit und breit keinen Tower erreichen. Nur den tiefer fliegenden Dädalus, den genialen Baumeister, Techniker und Erfinder der Flügelkonstruktion. Das Opfer war sein hochbegabter Sohn. Ikarus stürzte ins Meer. Er hatte sich nicht an die Weisungen des Vaters gehalten, weder zu tief noch zu hoch, zu nah an der Sonne zu fliegen.

Bei Ovid steht genau dies, aber eben noch viel mehr: eine Episode, vernetzt mit dem Geschichten- und Inselwirrwarr des Ägäischen Meeres – mit dem Meer als stillem Hintergrund und heimlichem Motivator. Im achten Buch der „Metamorphosen“ steht geschrieben, wie Dädalus büßen musste für einen Mord. Er hatte seinen Schüler und Neffen Talos von der Akropolis gestürzt, weil der ein besserer Erfinder zu werden versprach als der Meister selbst. Nach der Tat flieht er und sucht Unterschlupf bei König Minos auf Kreta, für den er das berühmte Labyrinth des Minotaurus baut. Als Dädalus in Ungnade fällt und mitsamt seinem Sohn Ikarus ins Labyrinth gesperrt wird, fertigt er Flügel aus Federn und Wachs und entkommt über das Meer. Mehr als 250 Kilometer in nordöstlicher Richtung geht es Richtung Kleinasien. Doch kurz vor dem Festland, auf der Höhe des heutigen Izmir, wird Ikarus Opfer seines Übermuts und stürzt ab.

Dädalus kann seinen Sohn nur noch tot bergen und an der Küste der Insel Ikaria begraben. Als er den Bestattungsritus vollzieht, hört er das fröhliche Gekeckere eines Rebhuhns, und er versteht den Grund seiner Bestrafung: Als er seinen Neffen Talos von der Akropolis ins Meer stürzte, wurde der von der Göttin Athene gerettet. Sie verwandelte ihn in ein Rebhuhn – jenen Vogel, der sich nie hoch hinaus wagt. Der am Boden nistet. Der alles andere als ein Überflieger ist. Der den Absturz fürchtet. Dädalus kann nur noch eines tun: den Tod des eigenen Sohns betrauern. Dann „schwingt“ er sich wieder auf und fliegt weiter. Diesmal Richtung Westen. Mehr als 1000 Kilometer weit bis nach Sizilien, wo er, inzwischen ermattet, von König Kokalos aufgenommen wird.

Der Mythos von Dädalus und seinem Sohn Ikarus verweist auf die politischen Probleme einer zersplitterten (Insel-)Welt, abhängig von der Seemacht Kreta, dem Zentrum der minoischen Kultur. Und er berührt Grundsätzliches. Der Himmel ist ein heimlicher, ein verbotener Traum. Das Meer aber ist die Realität. Dädalus, so schreibt der Dichter Ovid, hasst „die kerkernde Kreta, wohin ihn / Lange verbannt das Geschick, und, gelockt von der Liebe der Heimat, / War er umschlossen vom Meer. So werde denn Land und Gewässer, / Rief er, gesperrt; doch öffnet der Himmel sich: dort sei die Laufbahn! / Alles beherrschte auch Minos, die Luft beherrschet er doch nicht!“

Trotz des künstlichen Deutsch, der Hexameter verweist die Passage in den „Metamorphosen“ auf den Ursprung der Flugkunst: das Meer ist der Reichtum der Ägäis und auch ihr Fluch. Wer das Freiheitsideal der griechischen Staatenwelt ernst nimmt, blickt dem Meer ins Doppelgesicht: unendliche Weite, aber deshalb auch unüberbrückbar. Der Versuch, es zu beherrschen, gerät zum Akt der Vermessenheit, und Strafe ist gekoppelt an die Erkenntnis, dass Poseidon einer der schrecklichsten Götter sein kann. Odysseus jedenfalls konnte eine lange, eine sehr lange Geschichte davon erzählen.

Das Meer ist unberechenbar. Es definiert – zumindest in der Antike – den Lebensraum. Es erinnert an den Ursprung des Menschen, und wer sich darüber erhebt, schlüpft in eine bedenkliche Rolle. Ikarus erscheint nicht allein im Versgewand der griechischen Dichter als Engelsgestalt. Renaissance- und Barockmaler, die sich immer wieder mit dem Mythos auseinandersetzten, zeigen ihn mit Flügeln, wie sie in christlicher Vorstellung den Himmelsboten vorbehalten waren. Und der Sturz des Ikarus ins Meer hat seine christlich-düstere Version in der Lichtgestalt Luzifers: des schönen Engels, der sich in göttliche Höhen aufschwingen will und mit dem tiefst möglichen Absturz bestraft wird. Da reicht das Meer dann nicht mehr aus. Da muss es die Hölle sein, wo Luzifer mit seinen Gefolgsleuten das Schattenreich „Pandämonium“ errichten kann, die Unterwelt des Mittelalters.

Doch hier wie dort ist der Sturz nicht das Ende, sondern der Anfang. Ikarus stirbt, um seinen Flug im Lauf der Kulturgeschichte zu verewigen: als Impulsgeber des technischen Zeitalters. Als Vorläufer von Leonardo da Vinci, Newton, Edison und Dr. Frankenstein. Als Bildungsgröße im konservativen Kanon und als Figur des Widerstands im kommunistischen „teatro populo“ von Dario Fo. Die Unschuldsmiene des Meeres vor der Küste von Ikarien kann also noch so ruhig und urlaubsverheißend lächeln. Irgendwie verrät diese doppelgesichtige Ruhe, dass Friedrich Nietzsche recht hatte: „Man muss Flügel haben, wenn man den Abgrund liebt.“

mare No. 16

No. 16Oktober / November 1999

Von Thomas Krüger

Thomas Krüger, Jahrgang 1962, lebt als freier Autor in Bergisch Gladbach. Zuletzt rezensierte er in Heft 14 ein Buch über die Schiffskatze der Fahrt Shackletons

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Vita Thomas Krüger, Jahrgang 1962, lebt als freier Autor in Bergisch Gladbach. Zuletzt rezensierte er in Heft 14 ein Buch über die Schiffskatze der Fahrt Shackletons
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Vita Thomas Krüger, Jahrgang 1962, lebt als freier Autor in Bergisch Gladbach. Zuletzt rezensierte er in Heft 14 ein Buch über die Schiffskatze der Fahrt Shackletons
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