Die fliegenden Fischer

Bei Rückenwind sind Krebsscheren-Segel kaum zu übertreffen. Die Bootsbauer in Bali wissen das schon lange

Mit einem Stäbchen zeichnet Nyoman Pitshe ein Dreieck in den feinen Sand, verharrt einen Moment und sticht dann zu. „An dieser Stelle bricht manchmal der Bambus des Segels“, sagt er mit einem Lächeln. „Doch die Bambusspieren meines Segels sind mit Kokosnussöl eingerieben und über dem Feuer erwärmt worden. Die halten sicher.“

Wir laufen aus. Es ist fünf Uhr morgens und noch dunkel. Wir segeln den wilden Wolkengebirgen am östlichen Horizont entgegen. Im gelb-orangefarbenen Licht einzelner Blitze zeichnen sich die schwarzen Silhouetten kleiner Auslegerboote ab, der balinesischen Jukungs, die vor uns in die Lombokstraße segeln.

Ein bläulicher Funkenregen erhellt das Wasser, wenn einer der Bambusschwimmer in die kurze steile Welle sticht. Das viele Plankton leuchtet in der Verwirbelung des Heckwassers phosphoreszierend auf. Wie ein Komet zieht das Jukung seine Bahn zu den Fischgründen. Nyoman spult die Schleppleine ab. Wir jagen Tunfisch. Mehr als hundert Jukungs schwirren wie bunte Schmetterlinge übers Meer.

Plötzlich wird der Wind böig und beginnt zu drehen. Eine schwarze Wand im Süden kommt rasch näher. Der Wind frischt auf. Nyoman trimmt das Segel flacher. In einer starken Böe taucht der windabgewandte Ausleger einen Atemzug lang tief ins Wasser, kommt hoch, und dann beschleunigt das Jukung. Lächelnd hebt Nyoman den Finger: „Angin banyak!“ – viel Wind. Er holt die Schleppleine ein.

Bei diesem Wetterumschwung beißt kein Fisch. Er steuert das Jukung vom Wind weg auf einen achterlichen Kurs, sodass der Wind schräg von hinten bläst. Danach kippt er das Dreieckssegel an, bis fast zur Horizontalen, wie ein Flügel über unseren Köpfen. Das Jukung wird immer schneller. Wir gleiten die zwei Meter hohen, langen Wellen hinunter, die der starke Südwind formt. Vom Wellental aus sind nur die Segel der anderen Fischer sichtbar, die vor dem aufkommenden Sturm zur Heimatbucht fliehen.

Wie ein Geschwader Deltaflieger, Dreiecksspitze nach vorn, rasen wir nach Norden. Das Backstag, die Leine, die von der oberen Bambusspiere des Segels zum hinteren Auslegerarm reicht und unseren Flügel vor dem Abheben bewahrt, ist zum Zerreißen gespannt. Der Dreiecksflügel hebt und zieht das Jukung durchs aufgewühlte Meer, während es mit einem angenehm tiefen Brummen vibriert. Der mit der Fisch-Elefant-Gottheit Gajah-mina verzierte Bug hebt sich aus dem Wasser. Die weit nach vorne reichenden, zwanzig Zentimeter dicken Bambusschwimmer zeigen zum Vulkan Gunung Agung hoch. Ein paar Sonnenstrahlen brechen durch eine Lücke in der Wolkenwand und modellieren den heiligen Berg zu dem, was er für die Balinesen ist: der Sitz der Götter.

Trotz der hohen Segelgeschwindigkeit bleibt unsere Bugwelle klein. Sanft läuft das Wasser vom Rumpf ab. Wir hinterlassen nur eine schwache Spur. Leicht gekräuseltes Wasser verziert das Meer. Dann erscheint hinter der nächsten Felszunge die kleine Bucht mit dem schneeweißen Strand. Jetzt ist es nicht mehr weit. Gleichsam fliegend passieren wir den Landvorsprung aus schwarzem Fels mit viel Grün obendrauf, von wo braune Kühe ins tintenblaue Meer glotzen. Hinter der letzten Felsnase liegt die wind- und wellengeschützte Bucht von Padang Bai, einem Hafenstädtchen an der Ostküste.

„Annie! Schau dir mal dieses niedliche Dreieckssegelchen an“, sagt ein amerikanischer Tourist lachend zu seiner Frau, als sie den Strand entlangspazieren. „Wie ein flatternder Tanga!“ Wir verstauen das fünfzehn Quadratmeter große Segel, das uns die schnelle Flucht ermöglicht hat. Das Krebsscheren-Segel, so lautet die korrekte Bezeichnung, brachte europäische Wissenschaftler zum Staunen, als sie seine Wirkungsweise näher untersuchten.

Sensation im Windkanal

Die „Abteilung für natürliche Ressourcen und Umwelt der Verwaltungsbehörde für die Entwicklung in Übersee“, eine Einrichtung der britischen Regierung, beschäftigt sich mit kostengünstigen Technologien für Entwicklungsländer. Wenn Fischer bessere Segel hätten, so die Überlegung der Experten, dann könnten sie in einer bestimmten Zeitspanne eine größere Strecke absegeln. Das würde ihr Fanggebiet vergrößern und möglicherweise auch ihr Einkommen.

Diesem Gedanken liegt die unausgesprochene westliche Überzeugung zu Grunde, dass die segelnden Fischer in Entwicklungsländern, insbesondere im pazifischen Raum, mit müden Lappen segeln, die dem bei uns gebräuchlichen Bermuda-Segeltyp unterlegen sind.

Bevor aber die Fischer mit westlicher Segeltechnologie beglückt wurden, testete C. A. Marchaj, international renommierter Dozent für Aero- und Hydrodynamik an der Universität von Southampton, verschiedene Segelformen im Windkanal. Zusammen mit seinen Partnern verglich Marchaj sechs klassische Takelagen oder Riggs, wie man heute weltweit sagt. Interessant ist der Vergleich des modernen Bermuda- Riggs, das seit Anfang des 19. Jahrhunderts erstmals auf den Bermudas verwendet wurde, mit dem prähistorischen pazifischen Krebsscheren-Rigg. Diese Bezeichnung hat sich für die auf der Spitze stehenden Segel eingebürgert, die sich bei achterlichem Wind aufblähen und an Klauen eines Krebses erinnern. Noch ausgeprägtere Formen des Krebsscheren-Segels sind im polynesischen Raum zu finden.

In Southampton wurden die Riggs zuerst ohne Last in den Windkanal gestellt, also ein Segel ohne Schiff darunter. Windmaschine an. Eine gleichmäßige Brise wehte durch die englische Anlage. Schritt für Schritt wurde der Winkel der Segel zum Wind variiert. Man maß die auftretenden Kräfte, rechnete, und schließlich entstanden mehrere Diagramme. Das Ergebnis: Wenn der Wind schräg von hinten auf das Segel trifft, also in einem Winkel von 125 Grad, was des Seglers liebster Kurs ist, erweist sich das Krebsscheren-Rigg gegenüber dem Bermuda-Rigg als weit überlegen. Der Vortriebskoeffizient ist um 80 Prozent besser als beim Bermuda-Rigg, heißt schlichtweg: Das Boot bewegt sich schneller vorwärts.

Einzig auf Hoch-am-Wind-Kursen, also schräg gegen den Wind, ist der flatternde Tanga ganz knapp unterlegen. Aber: Ein Bermuda-Rigg besteht üblicherweise aus zwei Segeln, Groß und Fock. Vergleicht man die Leistung des Krebsscheren-Segels mit dem Großsegel allein, so ist die asiatische Konstruktion sogar auf dem schwierigen Hoch-am-Wind-Kurs um 28 Prozent überlegen. Und wenn man weit vom Wind abfällt, also wegdreht, wie Nyoman es im aufkommenden Sturm vor Bali vorführte, dann gibt es kein Halten mehr: Der Vorteil des Krebsscheren-Riggs wird noch größer.

Die Entwicklung im Flugzeugbau hat vor etwa 50 Jahren zu dem mit einem Jukung-Segel vergleichbaren Deltaflügel geführt, der in Kampfflugzeugen seine erste Anwendung fand. Der westlichen Flugzeugindustrie wären gewaltige Entwicklungskosten erspart geblieben, hätte sie im Fernen Osten genauer hingeschaut. Das aerodynamische Geschehen an einem derartigen Flügel wurde im pazifischen Raum schon vor vielen Jahrhunderten in Fahrt umgesetzt.

Den Entdeckern James Cook, der im 18. Jahrhundert ostwärts segelte, und vor ihm Juan Sebastian Elcano, der im 16. Jahrhundert zu den Philippinen fuhr, war gleichermaßen aufgefallen, wie schnell die kleinen Ausleger-Segelschiffe im pazifischen Raum um die trägen Pötte der Europäer herumflitzten. Sie führten das aber auf die spezielle Rumpfform der asiatischen Schiffe zurück, nicht auf das Segel.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 20. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 20

No. 20Juni / Juli 2000

Von Daniel Peterlunger und Nyoman Sursa

Daniel B. Peterlunger, Jahrgang 1958, ist Hochsee-Segler und Journalist und lebt in Murten (Schweiz).

Die Jukung-Illustrationen hat Nyoman Suarsa aus Bali, Jahrgang 1977, exklusiv für mare angefertigt. Weil das Meer den meisten Balinesen unheimlich ist, sucht man Jukungs in der traditionellen Malerei vergeblich. Im Meer landet nämlich nicht nur die Asche der Verstorbenen, dort hausen auch die bösen Geister

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Vita Daniel B. Peterlunger, Jahrgang 1958, ist Hochsee-Segler und Journalist und lebt in Murten (Schweiz).

Die Jukung-Illustrationen hat Nyoman Suarsa aus Bali, Jahrgang 1977, exklusiv für mare angefertigt. Weil das Meer den meisten Balinesen unheimlich ist, sucht man Jukungs in der traditionellen Malerei vergeblich. Im Meer landet nämlich nicht nur die Asche der Verstorbenen, dort hausen auch die bösen Geister
Person Von Daniel Peterlunger und Nyoman Sursa
Vita Daniel B. Peterlunger, Jahrgang 1958, ist Hochsee-Segler und Journalist und lebt in Murten (Schweiz).

Die Jukung-Illustrationen hat Nyoman Suarsa aus Bali, Jahrgang 1977, exklusiv für mare angefertigt. Weil das Meer den meisten Balinesen unheimlich ist, sucht man Jukungs in der traditionellen Malerei vergeblich. Im Meer landet nämlich nicht nur die Asche der Verstorbenen, dort hausen auch die bösen Geister
Person Von Daniel Peterlunger und Nyoman Sursa