Die Erschaffung der Natürlichkeit

Neuseeland ist einen Sonderweg der Evolution gegangen. Dank seiner isolierten Lage konnten sich hier außergewöhnliche Tierarten entwickeln. Um sie vor eingeschleppten Raubtieren zu schützen, greift das Land nun zu radikalen Maßnahmen.

Dies ist ein Urwald, Jahrmillionen alt. Moosbedeckte Bäume, die mit grünem Gewand im Zwielicht stehen. Hohe Farne, denen struppige Bärte wachsen. Alte Hölzer, die verrotten und den Duft von Moder und Wärme verströmen. Ein Schauer zieht seine sanfte Schleppe, und jeder Regentropfen, der an einem Farn hängen bleibt, funkelt im Gegenlicht und trägt eine Sonne in sich. Ich trete aus dem Wald an die Küste, wate durch klares Wasser, springe von Sandbank zu Sandbank. Über mir der blaue Himmel, durchschnitten von den grellen Rufen eines fremden Vogels. Nach Jahrzehnten der Stille sind auf Ulva Island wieder Vogelstimmen zu vernehmen. Zwischen Büschen und Farnen sind blaue und grüne Giftpellets zu sehen, an Bäumen hängen Tötungsfallen für Kleintiere. Ulva Island gilt als „pest free“, frei von Raubtieren. Den Feinden der Vögel. Auf der zweieinhalb Quadratkilometer großen Insel, südlich der Südinsel, sind Ratten, Mäuse und Possums entfernt worden. „Making birds“ nennen die Neuseeländer die Säuberung: Vögel machen.

So wie Ulva Island heute ist, so war ganz Neuseeland bis vor 700, 800 Jahren. Bis der Mensch hierherkam und Schädlinge mitbrachte. Und so soll ganz Neuseeland wieder werden, in 25 Jahren: „predator free“, raubtierfrei. Kleinere Inseln wie Ulva haben die Neuseeländer bereits von Vogelfressern bereinigt, aber ihr Ziel ist größer, manche sagen, irrwitzig. Sie möchten ganz Neuseeland – die zwei Hauptinseln, die Nord- und die Südinsel, sowie 700 kleinere vorgelagerte Inseln mit einer Fläche von insgesamt 268 000 Quadratkilometern, umgerechnet drei Viertel von Deutschland – bis auf den letzten Prädator säubern. Bis 2050. Dieses Ziel hat die neuseeländische Regierung im Jahr 2016 ausgerufen, „Predator Free 2050“, PF 2050. Mit Fallen und Gift wollen sich die Neuseeländer ihr Land zurückholen, das die „Invasoren vom Meer“ übernommen haben. Aber die Eindringlinge sind nicht freiwillig gekommen. Der Mensch hat sie hergebracht.

Als James Cook 1769 vor Neuseeland ankert, können seine Matrosen nicht schlafen vor lauter melodischem Krach. Manche der Vögel „klingen wie kleine Glocken, mit dem wohltönendsten Silberklang, den man sich vorstellen kann“, schreibt Cooks Reisebegleiter, Joseph Banks. Um Stille zu finden, rudern die Seeleute nachts ein Stück aufs Meer hinaus. Tagsüber trippelt von Bord der „Endeavour“ ans Ufer, was bald für Ruhe sorgen wird: Rattus norvegicus, die Wanderrate. Später gelangt eine weitere Art in den Dschungel: Rattus rattus, die Hausratte, auch Schiffsratte genannt. Die Siedler aus Europa verbreiten auch andere Vogel- und Vogeleierfresser: Katzen. Die hatten

Cook und seine Seeleute zunächst als Mittel gegen die vielen Ratten an Bord. Jetzt schifft er sie aus, ebenso wie Schweine. Jene hatte Cook ursprünglich als Lebendproviant für die lange Überfahrt dabei. Nun werden seine Kombüsen-Letzten die Ersten ihrer Art in Down Under. Dort bezeichnet man sie fortan als „Captain Cookers“. Später entladen die Siedler auch Mäuse. Unfreiwillig. Sie kommen als Schiffbrüchige ins Land. Die Brigg „Henrietta“ strandet 1824. Und das havarierte Schiff verlassen nicht Ratten, sondern Mäuse. Sie sind den Menschen auf Ruapuke Island unbekannt, sodass sie für die Neuankömmlinge einen Namen finden müssen. Sie taufen sie „Henriettas“.

500 oder 600 Jahre zuvor haben Maori Neuseeland entdeckt. Sie nennen es Aotearoa, „das Land der langen weißen Wolke“. In ihren Kanus, mit denen sie aus Polynesien gekommen sind, haben sie Pazifische Ratten dabei, Kiore. Und polynesische Hunde, Kuri. Die Briten wiederum führen im 19. Jahrhundert Hirsche, Hasen, Igel, Amseln, Fasane, Lachse, Heringe und Forellen ein. „Zum Vergnügen und zum Gewinn der Einwohner“ und um die „Verbindung mit dem Alten Land“ aufrechtzuerhalten, so ein Gesetz des Kolonialparlaments aus dem Jahr 1861. Viel Vergnügen und Gewinn finden vor allem die Hasen aneinander, sie verbinden sich rasch wachsend mit dem neuen Land. Um die Hasenpopulation in Schach zu halten, bringen die Siedler ab 1879 Hermeline, Frettchen und Wiesel ins Land. Die entlassen sie als „Gegenmittel“ in den Busch – mit dem Ergebnis, dass sich alle vier Tierarten ungehindert vermehren. Zudem importieren die Siedler Fuchskusus aus Australien, eine auch „Possum“ genannte Beuteltierart, um eine Pelzindus­trie zu begründen. Dann wird es still im Urwald, in nur wenigen Hundert Jahren.

Neuseeland ist einen Sonderweg der Evolution gegangen. Aufgrund seiner isolierten Lage im Pazifik konnten sich hier außergewöhnliche Tierarten entwickeln. Das liegt auch an einem besonderen Umstand: Bevor der Mensch hierherkam, gab es auf Neuseeland bis auf zwei Fledermausarten keine Säugetiere. Warum das so ist, ist unklar. Aber so hatten die anderen Arten mehr Raum, sich zu entfalten und eigene Wege zu gehen. Vor allem die Vögel. In Jahrmillionen der friedvollen Abwesenheit von Raubtieren verkümmerten ihnen die Flügel. Sie mussten ja vor
keinen Feinden wegfliegen. Außerdem wurden sie größer und schwerer als anderswo, bauten ihre Nester häufig am Boden. Schließlich drohte von unten ­keine Gefahr. Und sie rochen. Sie konnten ganz ungeniert ihren Körperduft verströmen, weil es keine Ratten­nase gab, die ihre Witterung aufnahm. Ihr einziger Feind kreiste oben in den Lüften, der Haast­adler. Der jagte mit den Augen, nicht mit der Nase. Er registrierte nur, was sich bewegte. Wenn die Bodenvögel ihn am Himmel erspähten, erstarrten sie. Das machte sie nahezu unsichtbar.

Als nun die Raubtiere in den Dschungel kommen, haben sie leichtes Spiel. Die Vögel sind einfach aufzuspüren, ihre Nester mühelos auszuplündern, und bei Attacken laufen sie nicht weg, sondern erstarren. Umgerechnet verschwinden jedes Jahr vier Vogelarten von Neuseeland. Lappenhopf, Neuseeland-Pfuhlhuhn, Lachkauz, Südinselpirol: verschwunden, Schwarzrücken-Zwergdommel, Nordinselschnepfe, Waldstummelschwanz, Stewartschnepfe: verschwunden. Und mit jedem letzten Vertreter einer Art verschwindet eine ganze Eigenheit, eine Ausprägung des Singens, des Sichfortbewegens, die sich von der anderer Vögel unterscheidet. Und mit jedem Verlust entfernt sich Neuseeland ein Stück weiter vom Ideal seiner Ursprünglichkeit. 


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mare No. 167

mare No. 167Dezember 2024 / Januar 2025

Von Dimitri Ladischensky und Mikołaj Nowacki

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, schrieb in mare No. 127 über eine Bioinvasion der gewünschten Art. Nicht eingeschleppte, sondern angespülte Ausscheidungen von Pottwalen, die an Neuseelands Küsten stranden. Sie heißen Ambra, sind begehrter Duftstoff in der Parfümindustrie und vermehren sich leider nicht.

Mikołaj Nowacki, geboren 1972, lebt als freier Fotograf in Wrocław, Polen. Er arbeitet für internationale Medien, verfolgt aber auch eigene Projekte. Ihn beschäftigen soziale, kulturelle, wirtschaftliche Themen, vor allem die Beziehung des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt, insbesondere zum Wasser.

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Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, schrieb in mare No. 127 über eine Bioinvasion der gewünschten Art. Nicht eingeschleppte, sondern angespülte Ausscheidungen von Pottwalen, die an Neuseelands Küsten stranden. Sie heißen Ambra, sind begehrter Duftstoff in der Parfümindustrie und vermehren sich leider nicht.

Mikołaj Nowacki, geboren 1972, lebt als freier Fotograf in Wrocław, Polen. Er arbeitet für internationale Medien, verfolgt aber auch eigene Projekte. Ihn beschäftigen soziale, kulturelle, wirtschaftliche Themen, vor allem die Beziehung des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt, insbesondere zum Wasser.

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