Die Armen sind wie wir

Wie können wir Reichen den Armen in den Entwicklungsländern wirklich helfen? Macht Hilfe abhängig? Schadet sie mehr, als sie nützt? Ein Projekt der Kindernothilfe in Sri Lanka gibt Aufschluss über Fragen, die nicht nur Spender beschäftigen

Im Hafen döst ein armer Fischer in seinem Boot. Ein Tourist stört ihn mit dem Klicken seiner Kamera. Warum er nicht aufs Meer fahre, fragt der Tourist. Weil er am Morgen schon draußen war und einen guten Fang gemacht habe, sagt der Fischer. „Aber Sie könnten noch ein zweites und drittes Mal hinausfahren“, rät der Tourist. Wenn er jeden Tag mehrmals führe, könne er in einem Jahr einen Motor kaufen, eines Tages einen Kutter, irgendwann könnte er ein Kühlhaus bauen und eine Fabrik, begeistert sich der Tourist. „Dann könnten Sie beruhigt in der Sonne dösen und auf das herrliche Meer blicken!“ Der Fischer antwortet: „Aber das tue ich ja schon jetzt.“

Mit der „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ hielt Heinrich Böll den Deutschen im Wirtschaftswunder einen Spiegel vor, aber die Kurzgeschichte enthält auch diese Lehre: Arme sind glücklich; sie sind faul; sie wollen es nicht anders. In den Slums an der sri-lankischen Westküste begegnet man vielen jungen Menschen mit schlechten Zähnen. Wenn sie lächeln, entblößen sie Ruinen. In Sri Lanka ist die Zahnbehandlung kostenfrei. „Sie geben einfach nicht auf sich acht“, sagt eine staatliche Krankenschwester: Die Armen sind dumm.

Die Armen sind den Reichen fremd. Sie werden auf Klischees reduziert, als einheitliche Masse verstanden, sie sind keine Akteure, sondern Empfänger und Bedürftige, die Fürsprecher brauchen. Rockstar Bono und Jeffrey Sachs, Ökonom und UN-Berater, fordern einen gigantischen Marshallplan für die Entwicklungsländer, ohne diesen seien sie in einer Armutsfalle gefangen. Wie Sachs hat es auch Dambisa Moyo auf die „Time Magazine“-Liste der „100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt“ geschafft, aber mit ganz anderen Überzeugungen: Entwicklungsgelder führten zu Korruption, und die wenigen Tropfen der Geldströme, die bei den Armen ankommen, machten sie abhängig, argumentiert die sambische Ökonomin. Sie verlören die Kompetenz, sich aus eigener Kraft zu helfen: Die Armen sind die Opfer der Hilfe.

Die prominenten Akteure in der Debatte um Armut erinnern an Kleriker. Jeder glaubt, sein Heilsweg sei der richtige. Und dieser Weg stützt sich auf das Menschenbild seiner Verfechter. Deshalb ist es so wichtig, wie die Reichen die Armen sehen: Was ist der wirklich wahre Weg, sie aus ihrem Elend zu erlösen? Gibt es überhaupt einen?

In Colombo heißt es, die coastal people seien laute und unangenehme Menschen. Ihre Siedlungen ziehen sich südlich der sri-lankischen Hauptstadt in schmalen Streifen entlang der Küste, eingezwängt zwischen Meer und Eisenbahn. Von der einen Seite tost die Brandung, von der anderen Seite lärmen die Züge. Die Dieselmotoren röhren, die Räder schlagen, das Horn der Lok schreit, um Anwohner vom Bahndamm zu scheuchen. Aus den Häusern dringt Lachen und Musik aus Soaps und Shows im Fernsehen, in den Gassen schallt das Dideldum von Hausierern. Dicke Frauen hängen Wäsche auf, sehnige Männer dämmern vor Bretterverschlägen, junge Mädchen suchen sich ihr Haar gegenseitig nach Läusen ab, Kinder rennen neben räudigen Hunden.

Die coastal people sind Fischer und Tagelöhner ohne festes Einkommen. Einige besitzen ein Auslegerboot mit einem Segel aus dünner Baumwolle, damit fahren sie zehn und mehr Kilometer weit aufs Meer. Andere verdingen sich auf Kuttern. Immer hängt ihr Einkommen vom Fang ab. Nach Abzug der hohen Kosten für Diesel geht die Hälfte des Erlöses an den Eigner, die andere Hälfte teilt sich die Mannschaft. Gehen keine Fische an die Haken oder in die Netze, bekommen die Tagelöhner keinen Lohn. Ihre Familien leben und überleben von Tag zu Tag.

Zwischen Brandung und Bahnlinie engagiert sich die Kindernothilfe in fünf Siedlungen mit insgesamt 5000 Menschen. Wer den Kindern helfen will, müsse die Mütter stark machen, erklärt der Pressesprecher des Hilfswerks, das in Duisburg sitzt und der Evangelischen Kirche angehört. „Die Selbsthilfegruppen sind unser Alleinstellungsmerkmal.“ Der Sprecher benutzt ein Wort aus dem Jargon der Werbebranche, die Hilfsorganisationen stehen untereinander im Wettbewerb, sie müssen dem Spender ihren Weg der Hilfe eindringlich und plakativ verkaufen.


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mare No. 104

No. 104Juni / Juli 2014

Von Bernd Hauser und Peter Dammann

Bernd Hauser, Jahrgang 1971, ist freier Autor der Agentur "Zeitenspiegel". Er lebt in Brüssel.

Fotograf Peter Dammann, 1950-2015, lebte in Bern und Hamburg.

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Vita Bernd Hauser, Jahrgang 1971, ist freier Autor der Agentur "Zeitenspiegel". Er lebt in Brüssel.

Fotograf Peter Dammann, 1950-2015, lebte in Bern und Hamburg.
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Vita Bernd Hauser, Jahrgang 1971, ist freier Autor der Agentur "Zeitenspiegel". Er lebt in Brüssel.

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