Der Verlust des Ariadnefadens

Bereits die Sumerer orientierten sich mithilfe der Beobachtung von Vögeln. Die ornithologische Navigation half in aller Welt den Menschen beim Aufbruch zu neuen Ufern. Mit jedem Aussterben einer Vogelart geht daher ein unschätzbares Kulturerbe verloren

Ornithogaia, Land der Vögel, Erde der Vögel, nannten die europäischen Naturforscher die Inselwelt Ozeaniens, jene nordöstlich des kleinen Kontinents Terra psittacorum, des Papageienlands, und der großen Insel Terra piccinacoli, des Paradiesvogellands, in die Weite des Stillen Ozeans gestreuten Landsplitter. Natürlich, denn man bezeichnet einen Ort danach, wodurch er sich auszeichnet, und man zeichnet das dort Gesehene, das dort Geschehene in Worten nach.

Entdecker und Seefahrer achten seit je auf Vögel. Vogelschwärme präzisieren das Richtungswissen der Astronavigation und anderer Orientierungstechniken und helfen überhaupt, eine noch unbekannte Insel zu erahnen. Vogelschwärme sind das Erste und Letzte, was man von einer Insel, die am Horizont vorbeigleitet, sieht. Vögel sind die erste und letzte Verbindung beim Ankommen, Fortfahren und Wiederkommen. Sie blicken über unseren Horizont, und selbst wenn uns die Welt nur noch aus Himmel und Wasser besteht, wenn alles Feste versunken scheint, so finden sie noch eine winzige Insel zur Rast, mitunter auch ein Schiffsdeck oder den Rücken einer Meeresschildkröte in der Sonne.

Die Logbücher des Zeitalters der Entdeckungen vermerken alle Sichtungen von Vögeln, Meerestieren, Treibgut und allen anderen Erscheinungen des Meereslebens mit der gleichen Akribie wie die Wetterdaten. „Die ganze Nacht hört man unaufhörlich Vögel vorüberziehen“, schrieb Kolumbus und richtete in einem kühnen Kurswechsel seine Route nach diesen lebenden Seezeichen neu aus. Es dürften Schwärme des Amerikanischen Goldregenpfeifers und des heute vielleicht schon ausgestorbenen Eskimobrachvogels gewesen sein, die ihn zu seinem Richtungswechsel führten. Er wusste, dass etwa die Portugiesen die „Habichtsinseln“, die „Ilhas dos Açores“, anhand von Raubvögeln entdeckt hatten. Jahrhunderte früher schon fanden irische Mönche, dem Flug der Wildgänse folgend, Island – noch vor Flóki Vilgerðarson, dem „Rabenflóki“, der ein paar färingische Landfindevögel an Bord mitführte und sich dabei einer der ältesten Techniken der Seefahrt bediente.

Die ornithologische Navigation ist in der Mittelmeerantike und im alten Orient dokumentiert und so alt, dass sie bruchlos ins Mythische übergeht. So wie Noah und der Sumerer Utnapischtim sich nach den Vögeln richteten, als die Welt neu aus dem Wasser aufstieg, so folgten auch die alten Pazifikfahrer, als ihnen eine neue Welt aus dem Wasser aufstieg, den Vögeln. Ist es ein Zufall, dass man auf den Marshallinseln von der Entdeckung einer Insel, einem Reiher mit einem Zweig im Schnabel folgend, erzählte? Von Insel zu Insel zogen sie, den Vögeln nachsegelnd, beobachtend, bis weit in den fernen Osten Ozeaniens, zur Osterinsel.

Die wenigen technischen Hilfsmittel, aus Stäben geflochtene Seekarten, mit Kaurimuscheln garniert, waren nur Beiwerk. Die wichtigsten Werkzeuge trugen sie im Kopf in Form hochkomplexer mnemotechnischer Systeme, eine „Routenmethode“ im wahrsten Sinn, in Form von Bootsgesängen, die bild- und metaphernreich eine vieldimensionale Seekarte erzeugten, ein Navigationssystem, mit dem die Seefahrer singend über das Meer zogen, wie die Vögel durch den Luftozean.

Aus Textfragmenten, etwa von den Karolinen, leuchten ungewöhnliche, mitunter monströse Erscheinungen auf – Inseln voller pinkfarbener Kokosnüsse oder oranger Brotfrüchte, gelbe Haie, weiße, schwarze und gelbe Wale, manche doppelköpfig oder doppelschwänzig, der schwarze Schattenwurf eines Seeschwalbenschwarms auf einem hellen Riff –, überhaupt ziehen unaufhörlich Vögel, Regenpfeifer, Seeschwalben, gelbe und schwarze Reiher, Brachvögel oder Fregattvögel, durch dieses bunte Universum, diese Textur aus Fakten und Fabeln, in der Materielles und Märchenhaftes einander stützen und jedes Element, in Bezug gesetzt zu den Sternen, navigatorische Entscheidungsrichtungen vorgibt.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 106. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 106

No. 106Oktober / November 2014

Von Marcel Robischon

Professor Marcel Robischon, im Jahr des Tigers Geborener – ein Jahrgang, der sich, wie es heißt, gut mit Tieren versteht und alles, was die Vorstellungskraft anregt, mag –, ist Forstwissenschaftler und promovierter Biologe. Er lebte der Forschung halber jahrelang in England und Kalifornien und lehrt nun an der Berliner Humboldt-Universität. Seine bisher erschienenen Bücher handeln vom Planet der Insekten und Vom Verstummen der Welt.

Mehr Informationen
Vita Professor Marcel Robischon, im Jahr des Tigers Geborener – ein Jahrgang, der sich, wie es heißt, gut mit Tieren versteht und alles, was die Vorstellungskraft anregt, mag –, ist Forstwissenschaftler und promovierter Biologe. Er lebte der Forschung halber jahrelang in England und Kalifornien und lehrt nun an der Berliner Humboldt-Universität. Seine bisher erschienenen Bücher handeln vom Planet der Insekten und Vom Verstummen der Welt.
Person Von Marcel Robischon
Vita Professor Marcel Robischon, im Jahr des Tigers Geborener – ein Jahrgang, der sich, wie es heißt, gut mit Tieren versteht und alles, was die Vorstellungskraft anregt, mag –, ist Forstwissenschaftler und promovierter Biologe. Er lebte der Forschung halber jahrelang in England und Kalifornien und lehrt nun an der Berliner Humboldt-Universität. Seine bisher erschienenen Bücher handeln vom Planet der Insekten und Vom Verstummen der Welt.
Person Von Marcel Robischon