Der tödliche Gesang der Sirenen

Sirenen begleiten den Menschen seit Tausenden von Jahren. Zumeist als sinnliche, aber verwerfliche Versuchung

Lang hingestreckt stützte sie den Kopf mit den gekreuzten Händen und zeigte ruhig, ganz ohne Scham, die zarten Härchen in den Achselhöhlen, die beiden Brüste, den vollendet geformten Leib. Von ihr stieg ein Geruch auf, ein magischer Geruch nach Meer, nach ganz junger Wollust. Wir waren im Schatten, aber zwanzig Meter von uns entfernt gab sich die Meeresoberfläche der Sonne hin und schäumte vor Lust. Meine fast völlige Nacktheit verbarg meine Erregung nur schlecht.“ So schildert der Autor Giuseppe Tomasi di Lampedusa die Begegnung mit einer Sirene.

Und so kennt man sie, die Sirene. Bezaubernd, mit langem, weichem Haar und kurvenreich, eine Versuchung, ein geheimnisvolles Wesen mit glitzerndem Fischschwanz, das durch seine Schönheit und seinen Liebreiz die Männer betört. Geschaffen, diese zu beglücken.

Alles Unsinn. Oder Projektion. Denn die Sirene war ursprünglich alles andere als liebreizend. Sie war von befremdlicher Gestalt, ein Mischwesen aus Vogel und Mensch, mit scharfen Krallen und geflügelt, auf einem Felsen lauernd. Eine Dämonin, die ins Totenreich begleitet, eine Seherin, nicht einmal eindeutig einem Geschlecht zugeordnet; auch bärtige Sirenen mit maskulinen Zügen kamen vor. Ein Zwitterwesen in vielerlei Sinne. Als Odysseus die Insel mit den zwei Sirenen passierte, war von deren Schönheit keine Rede. Ihr Aussehen wurde nicht mit einem Wort erwähnt. Denn das, was sie neben ihrem prophetischen Wissen auszeichnete, waren ihre Stimmen.

Der erregte Erzähler in Tomasi di Lampedusas Kurzgeschichte „Die Sirene“ darf auch das erleben: Ihre Stimme „war etwas kehlig, verschleiert, von zahllosen Harmonien tönend; in ihrem Untergrund spürte man die Brandungen der sommerlichen Meere, wenn sie an Felsen aufprallen, das Rauschen der letzten Schaumkronen auf dem Strand, das Wehen der Winde über die im Vollmond glänzenden Wogen. Den Gesang der Sirenen, den gibt es nicht: die Musik, der man nicht entfliehen kann, ist allein die ihrer Stimme.“

Bei Odysseus war das Szenario wesentlich morbider: eine blumige Wiese, darauf verstreut bleiche Schädel und moderndes Männerfleisch, und mittendrin die beiden Sirenen. Mit Tauen an den Mast gebunden, den Matrosen die Ohren mit Wachs verklebt, konnte Odysseus als Einziger auf dem Schiff den Gesang zwar hören und genießen, sich aber nicht aus seinen Fesseln lösen. Denn sonst wäre er den Stimmen übers Wasser gefolgt, um sich ihnen hinzugeben. Das jedoch hätte tödlich geendet. Er überlebte dank dieser List, die im Übrigen nicht seine eigene war, sondern die ihm seine Geliebte, die Zauberin Kirke, in intimer Stunde zugeflüstert hatte.

Im 12. Gesang der Homer zugeschriebenen und wahrscheinlich im 8. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Odyssee taucht die Figur der Sirene zum ersten Mal in der Dichtung auf. Davor schwirrte sie aber schon in vielerlei Ausprägungen in der Sagenwelt der Griechen herum; als friedliche Schwester der Musen, als geflügelte Todesbotin, als Rachegöttin mit engem Kontakt zu Persephone, der Herrscherin der Unterwelt.

Sie wird sich im Laufe der nächsten 2700 Jahre immer wieder wandeln, viele Nebenfiguren erhalten und oft das verlieren, was ihr eigentliches Merkmal war: die Stimme. Dafür erhält sie immer häufiger etwas, das ursprünglich unbedeutend war: Schönheit und den verführerischen, eindeutig weiblichen Körper.

Die frühen Illustrationen zur Odyssee zeigen jahrhundertelang immer Vogelwesen mit Menschenkopf; aus den ursprünglich zwei Sirenen sind nun meist drei geworden. Mischwesen und Meeresungeheuer gab es in der Antike viele, die schlangenleibige Skylla ist nur eines davon. Das ursprüngliche Landwesen Sirene verschmilzt mit solchen Wasserwesen, und aus dem 1. Jahrhundert nach Christus kennen wir bereits eine Abbildung einer Sirene mit Fischunterleib. Von nun an laufen beide Stränge, Fisch-Frau und Vogel-Frau, parallel. Zu frühchristlicher Zeit erhält die Fisch-Frau dann die Bedeutung, die sie nie mehr verlieren wird: die der sinnlichen und eben deshalb moralisch verwerflichen Versuchung.

Die Kirchenväter konnten sie mit Leichtigkeit in ihre Lehre integrieren: als unkeusche Verführerin der Gläubigen und als Gegenpol zur reinen Jungfrau Maria. Ihre Lasterhaftigkeit wurde dadurch unterstrichen, dass sie Instrumente wie die Flöte in der Hand hielt. Die Fisch-Frau nahm oberhalb ihres Nabels aufreizend-weibliche Formen und eine erotische Gestalt an, die sie auch in den folgenden Jahrhunderten nicht verlor und sich in der Vorstellungswelt der Menschen immer mehr verankerte.

Wie enttäuscht muss da Kolumbus gewesen sein, als er auf seiner Fahrt nach Amerika wirkliche Sirenen entdeckte. Sie waren keinesfalls so schön, wie immer erzählt wurde, sie waren mehr als üppig, eher schon fett, ihr Gesicht plump, und singen konnten sie auch nicht. Nur der fischförmige Unterleib entsprach annähernd Kolumbus’ Vorstellung. Was ihm da in der nördlichen Karibik entgegenschwamm, war eine Seekuh, ein Manati, wissenschaftliche Bezeichnung: Sirenia.


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mare No. 22

No. 22Oktober / November 2000

Von Zora del Buono

Zora del Buono ist mare-Kulturredakteurin und lebt in Berlin. In Heft 21 schrieb sie über das Hotel Atlantis auf den Bahamas

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Vita Zora del Buono ist mare-Kulturredakteurin und lebt in Berlin. In Heft 21 schrieb sie über das Hotel Atlantis auf den Bahamas
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Vita Zora del Buono ist mare-Kulturredakteurin und lebt in Berlin. In Heft 21 schrieb sie über das Hotel Atlantis auf den Bahamas
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