Der Tod der Muschelsammler

Im Dezember 2004 starben 23 Chinesen im Watt der englischen Nordseeküste. In der Tragödie von Morecambe Bay gipfelt die grausame Ausbeutung von Arbeitsmigranten

Am Nachmittag des 5. Februar 2004 erhielten zwei Teams chinesischer Arbeitsmigranten, insgesamt mehr als 50 Männer und Frauen, die Anweisung, ans Meer zu fahren und dort zu arbeiten. Sie sollten in der Morecambe Bay, im Nordwesten Englands, auf den Sandbänken von Warton Sands cockles, Herzmuscheln, sammeln. In Liverpool, wo sie von ihrem Anwerber untergebracht worden waren, bestiegen sie zwei Kleinbusse und machten sich auf den Weg.

Es war der Tag des chinesischen Laternenfests Yuan Xiao, an dem die Menschen in China normalerweise nicht arbeiten, sondern die Zeit mit ihren Familien verbringen. Aber hier, in einem fremden Land, galten solche Traditionen nicht. Die Migranten sollten schuften, damit ihr Arbeitgeber und Aufkäufer am Ende der Schicht die Muscheln auf Lastwagen laden könnte, die früh am nächsten Morgen die Ware nach Spanien bringen würden.

Unterwegs gab es eine Panne. Einer der Kleinbusse blieb mit Motorschaden liegen, und alle Chinesen, die mit ihm unterwegs waren, kehrten unverrichteter Dinge nach Liverpool zurück. Der andere Kleinbus fuhr mit über 30 Arbeitern weiter zur Morecambe Bay. Als diese dann dort gegen 17 Uhr ankamen, machten sich die britischen Muschelsammler gerade auf den Rückweg. Sie hatten gehört, dass sich das Wetter verschlechtern und die Flut höher ausfallen sollte als gewöhnlich. Die Chinesen wussten davon nichts.

In den Tagen nach dem Laternenfest wurden 21 Leichen von Männern und Frauen im Alter zwischen 18 und 45 Jahren aus der Bucht geborgen. Zwei Leichen blieben verschwunden. Mindestens 15 Muschelsammler hatten überlebt, wahrscheinlich waren es mehr, denn einige sind aus Furcht vor Verhaftung und Abschiebung noch in der Nacht geflohen, die genaue Zahl ist bis heute ungeklärt. 22 der 23 Opfer stammten aus der chinesischen Provinz Fujian, eines aus der Provinz Shandong an Chinas Küste.

Sie gehören zu jenen Zehntausenden chinesischer Männer und Frauen, die nach Großbritannien gekommen sind, um hier zu arbeiten, damit sie ihren Familien in China ein besseres Leben ermöglichen. Viele von ihnen sind illegal eingereist und führen ein Schattendasein im Untergrund.

Die Arbeiter, die auf den Sandbänken der Morecambe Bay Muscheln sammelten, hatten sich hoch verschuldet, um den snakeheads, „Schlangenköpfen“, die sie nach Europa schmuggelten, die geforderte Summe von 15 000 bis 20 000 Pfund, 23 000 bis 30 000 Euro, je Person zahlen zu können. Es ging für sie mit der Bahn durch Russland, mit gefälschten Pässen im Flugzeug oder versteckt in Frachtcontainern per Schiff nach Europa, dann weiter in Lastwagen versteckt über den Kanal nach England. Kaum dass sie britischen Boden betreten hatten, forderten die Schlepper ihr Geld und boten ihnen Tilgung durch Arbeit. Um den Kredit abzuzahlen, würden sie in Großbritannien drei bis fünf Jahre ununterbrochen unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten müssen.

Illegale Arbeitsmigranten werden in Großbritannien systematisch ausgebeutet. Zumeist arbeiten sie in der Gastronomie, in der Lebensmittel- und der Bauindustrie. Arbeitsvermittler und Unternehmer nutzen es aus, dass diese Illegalen weder Grundrechte noch Arbeitsschutz kennen.

Zu diesem unregulierten, das heißt: voll flexiblen Arbeitsmarkt gehörten auch die 23 chinesischen Männer und Frauen, die auf so tragische Weise in den Watten der Morecambe Bay ums Leben kamen. Zuvor hatten sie – meist noch schlechter bezahlt – in anderen Bereichen gearbeitet, etwa bei Cateringfirmen. Sie suchten dringend einträglichere Jobs, um ihre Schulden bezahlen und ihre Familien unterstützen zu können. Manche wechselten häufig den Job, weil sie Gelegenheitsarbeiter in der Lebensmittelindustrie waren – wenn die Hauptsaison vorüber war, mussten sie ihre Arbeit in den Fabriken aufgeben und sich wieder einen anderen Job suchen. Andere dagegen verließen aus Furcht vor Polizeirazzien auf Migranten die Großstädte und nahmen eine risikoreichere Beschäftigung in abgelegenen ländlichen Regionen an.

Unter diesen Umständen fiel es der Meeresfrüchteindustrie nicht schwer, für das Muschelsammeln chinesische Arbeitskräfte zu finden, die bereit waren, zu niedrigen Löhnen zu arbeiten. Die Rekrutierung begann 2002, als Chinesen in Lancashire auftauchten und Landsleute in der Heimat anwarben. Zu der Zeit wurden fünf chinesische Sammelteams gebildet. Lokale Zwischenhändler fanden schnell heraus, dass die Chinesen, verglichen mit britischen Muschelsammlern, pünktlicher, produktiver und um die Hälfte billiger waren. Sie konnten die Muscheln von den chinesischen Anwerbern sehr günstig, damals für 13 Pfund je Sack, etwa 20 Euro, beziehen, während sie bei einheimischen Arbeitern das Doppelte zahlen mussten.

Das von Chinesen betriebene Muschelsammeln wurde zum gewinnbringenden Geschäft, von dem besonders die Zwischenhändler profitierten. Sie belieferten Großbetriebe der Meeresfrüchteindustrie und wurden als „Bosse“ bezeichnet. Sie bestimmten die Anzahl der notwendigen Arbeitskräfte, kontrollierten die Abläufe und setzten für die 30 bis 40 Arbeiter in jedem Team die Produktionsziele. Abnehmer waren britische, aber auch ausländische, zumeist niederländische und spanische Betriebe. 18 Monate lang war Dani Foods – dessen Besitzer, Daniel Sánchez Llibre, Präsident des Fußballklubs Españyol de Barcelona ist – der größte Aufkäufer der von Chinesen gesammelten Muscheln. Weiter gehörten zu den Abnehmern Firmen in Boston, Lincolnshire, die wiederum Sainsbury’s und andere Supermarktketten in Großbritannien beliefern. Dort kosten 100 Gramm dieser Muscheln im Durchschnitt 2,80 Pfund, etwa 4,30 Euro.

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mare No. 80

No. 80Juni / Juli 2010

Von Hsiao-Hung Pai

Die Autorin Hsiao-Hung Pai wurde 1968 in Taiwan geboren und ist 1991 nach Großbritannien emigriert. Sie lebt und arbeitet heute als freie Journalistin in London und in Großbritannien, unter anderem für den Guardian, die Feminist Review, die UK Chinese Times und viele andere britisch-chinesische Publikationen. Für den Guardian berichtete sie über die Ereignisse an der Morecambe Bay, wofür sie mit gefälschten Papieren in den Untergrund ging. Sie arbeitete als „Chen Min“ unter anderem auf einem Schlachthof und bekam Einblicke in die Ausbeutung illegaler Einwanderer im Vereinigten Königreich im Allgemeinen und in das Muschelgeschäft im Besonderen, da ihr gangmaster auch in der Morecambe Bay seine Finger im Spiel hatte. Sie schrieb danach das Buch Chinese Whispers: The True Story Behind Britain’s Hidden Army of Labour, das 2009 für den Orwell Book Prize nominiert war.

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Vita Die Autorin Hsiao-Hung Pai wurde 1968 in Taiwan geboren und ist 1991 nach Großbritannien emigriert. Sie lebt und arbeitet heute als freie Journalistin in London und in Großbritannien, unter anderem für den Guardian, die Feminist Review, die UK Chinese Times und viele andere britisch-chinesische Publikationen. Für den Guardian berichtete sie über die Ereignisse an der Morecambe Bay, wofür sie mit gefälschten Papieren in den Untergrund ging. Sie arbeitete als „Chen Min“ unter anderem auf einem Schlachthof und bekam Einblicke in die Ausbeutung illegaler Einwanderer im Vereinigten Königreich im Allgemeinen und in das Muschelgeschäft im Besonderen, da ihr gangmaster auch in der Morecambe Bay seine Finger im Spiel hatte. Sie schrieb danach das Buch Chinese Whispers: The True Story Behind Britain’s Hidden Army of Labour, das 2009 für den Orwell Book Prize nominiert war.
Person Von Hsiao-Hung Pai
Vita Die Autorin Hsiao-Hung Pai wurde 1968 in Taiwan geboren und ist 1991 nach Großbritannien emigriert. Sie lebt und arbeitet heute als freie Journalistin in London und in Großbritannien, unter anderem für den Guardian, die Feminist Review, die UK Chinese Times und viele andere britisch-chinesische Publikationen. Für den Guardian berichtete sie über die Ereignisse an der Morecambe Bay, wofür sie mit gefälschten Papieren in den Untergrund ging. Sie arbeitete als „Chen Min“ unter anderem auf einem Schlachthof und bekam Einblicke in die Ausbeutung illegaler Einwanderer im Vereinigten Königreich im Allgemeinen und in das Muschelgeschäft im Besonderen, da ihr gangmaster auch in der Morecambe Bay seine Finger im Spiel hatte. Sie schrieb danach das Buch Chinese Whispers: The True Story Behind Britain’s Hidden Army of Labour, das 2009 für den Orwell Book Prize nominiert war.
Person Von Hsiao-Hung Pai