Der Strandgänger von Long Island

Der Schriftsteller Max Frisch suchte den freien Blick auf das Meer, um seinen „Montauk“ zu schreiben

Ich kann’s nicht lassen, ich habe eine kleine Schreibmaschine gekauft ohne literarische Absicht. Diese Obsession, Sätze zu tippen.“ Also schreibt er, beschreibt ein Wochenende am Meer. „Jetzt ist es Mittag; alles ist außen: ein Sternenbanner, das flattert, ein plumper Leuchtturm, die Möwen, irgendwoher Musik aus einem Transistor, das glänzende Blech auf dem weiten Parkplatz, die Sonne, der Wind.“

Der Mann aus den Schweizer Bergen suchte das Meer, oder besser: die freie Sicht, die es dem Auge gewährt. Am 11. Mai 1974 besuchte Max Frisch Montauk, jenen Ort auf Long Island mit einem roten Leuchtturm als Wahrzeichen. „Montauk, ein indianischer Name; er bezeichnet die nördliche Spitze von Long Island, hundertzehn Meilen von Manhattan entfernt.“

Von New York geht es über den East River, durch einen Ort namens Jamaica. Nach einer Stunde ist die Skyline von Manhattan immer noch sichtbar, die Zwillingstürme des World Trade Center, die Nadel des Empire State Building, Haus für Haus zu einem Festungswall ineinandergeschoben. Die Stadt reckt sich weit in den Himmel und weit ins Wasser hinein und verblasst dann langsam im Dunst wie eine ferne Erinnerung. Großgaragen, viel Wellblech und Rost, bewohnte Baracken, Müllhaufen an den Bahndämmen, der Schrott trostloser Vorstädte weicht bald Kiefernwäldern rechts und links, Long Island ist erreicht. Die Ortsnamen der Ureinwohner: Massapequa, Patchogue, Speonk, Quogue, Amagansett. „Wo ist man jetzt eigentlich? Landschaft der Indianer, aber nur Schlangen soll es noch geben. Paradies ohne Leute.“ Zwei Stunden dauert die Fahrt von Manhattan nach Montauk. Der Ort gab der Erzählung „Montauk“ ihren Namen. Darin wird das Meer dem Autor zum Stichwort für die eigene Biographie, zur Metapher für sein Schreiben, für die Politik und für die Liebe.

Der Schriftsteller sinniert über „das Morgenmeer perlmuttergrau unter tiefem Gewölk, die Brandung flau, keine Sonne. Es ist besser, die Schuhe auszuziehen und barfuß im Sand zu gehen, die Schuhe in den Händen. Möwen über der leeren Küste, lauter als jede Empfindung, lauter als die Brandung. Er denkt: Heute wird’s regnen. Büschel von Gras auf der Düne.“ Wie unzulänglich sei aber die Sprache, denn „erstens ist das Meer nicht perlmuttergrau, die Möwen sind nicht weiß, der Sand weder gelb noch grau, nicht einmal das Gras ist grün oder gelb, das tiefe Gewölk nicht violett.“ Reiseprosa entsteht hier nicht.

Die unmittelbare Gegenwart entzieht sich der Beschreibung. Das Meer ist nicht, was es ist – denn nichts ist, was es auf den ersten Blick zu sein scheint. Das war immer wieder Max Frischs Thema, sein literarisches Leitmotiv: dass es keine Sprache für die Wirklichkeit gibt; dass sich das Leben fortbewegt hinter den verabredeten Wörtern, die es festschreiben wollen. Von Montauk gibt es einen Zustandsbericht zu erstatten, aber keine Geschichte zu erzählen: „Das wäre es, zwei Verkehrstote, eine junge Amerikanerin (die genauen Personalien) und ein älterer Schweizer (die genauen Personalien), ihr Wochenende an der Küste wäre erzählbar, unser Wochenende.“

Immer ist der Mensch woanders als dort, wo er ist, und so wandern die Gedanken des Erzählers übers Wasser, unmöglich, das Denken in der Gegenwart anzuhalten. Der – vorgebliche – Plan, nicht über Politik zu schreiben, sondern sich auf die eigene Person und den Ort am Meer zu konzentrieren, die „wonnige Langeweile“ auszukosten, scheitert. Der Blick zum Horizont reicht weit hinter den Horizont.

Die zeitgenössischen Schriftsteller der Siebziger, konfrontiert mit Studentenrevolte und Vietnamkrieg, konnten ihr Tun, die Literatur ihre Existenz nur durch politische Stellungnahmen legitimieren. Sozialkritische Texte und Dokumentarliteratur standen auf der Tagesordnung. Fort mit dem ästhetischen Luxus: Hans Magnus Enzensbergers neugegründetes Kursbuch rief mit aller Revolutionseuphorie den „Tod der Literatur“ aus, jener Literatur jedenfalls, die bestehende Ordnungen nicht durch explizite Argumente in Frage stellte. Es erschienen Erika Runges „Bottroper Protokolle“, Günter Wallraffs enthüllende Reportagen, und Heinrich Böll veröffentlichte „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“.

Max Frisch aber versuchte mit „Montauk“, sein Schreiben aus dem politischen Tagesgeschehen zu lösen, die „Forderungen des Tages“ wenigstens einmal zu vergessen und ohne politische Botschaft an die Leser zu schreiben. Zumindest sagt er das.

Denn ausgerechnet hier, in dieser menschenleeren Landschaft in der Vorsaison, wo der Strandgänger jenseits von Raum und Zeit unterwegs sein will, muss er erkennen, dass er aus der Geschichte nicht austreten kann. „In Berlin ist es jetzt schon drei Uhr Nachmittags...“ Zwar liegt der Atlantik zwischen dem Erzähler und seiner europäischen Heimat wie eine Nachrichtensperre, aber einige Neuigkeiten erreichen ihn doch. „Rücktritt von Bundeskanzler Brandt: hier kein Thema, das über mehrere Meilen reicht...“ Der Homo Faber ist ein Homo Politicus, ob er will oder nicht.

Wie Privates und Politisches miteinander verbunden sind, erlebte Frisch schon früh am eigenen Leibe. 1933 musste er mit seiner jüdischen Freundin, einer Berlinerin, die in der Schweiz studierte, erfahren, wie stark der Antisemitismus in der neutralen Schweiz ausgeprägt war. Dass ein Staat nicht ignorieren soll, was jenseits seiner Grenzen vorgeht, und der Schriftsteller nicht ausschließlich um seine eigene Person kreisen darf, diese Erkenntnis prägt Max Frischs Werk. Der Schweizer, der die Verlogenheit seines Landes hasste, suchte die „Öffentlichkeit als Partner“ und begann gleich nach 1945, sich in die politische Diskussion einzumischen.

Aber gerade der Engagierte verdankt seinen Erfolg als Schriftsteller der Tatsache, dass er weder den Tod der Literatur ausruft noch die literarische Poesie der politischen Prosa opfert, sondern dass er über das Meer Worte verliert, die nicht politischen Aufträgen dienen. Das Meer ist Frischs schriftstellerischer Luxus, der Spiegel, in dem er nur sich selbst sieht, und nur durch ihn hindurch kommt er zu Ahnungen und Wahrheiten: „Es ist immer noch die Küste, die Brandung vielleicht etwas näher als vor zwei Stunden, weder stärker noch schwächer. Die Sonne steht noch immer hoch am Horizont.“ Der unermüdliche Kritiker Frisch zeigt sich hier als nihilistischer Denker, glaubt, dass nicht einmal jene Menschen, die bannerschwingend auf die Straße ziehen, eine Veränderung erwarten. Die Geschichte verhält sich wie die zyklischen Abläufe der Natur, die auf Dauer wie Stillstand wirken. Die Graffiti, von Demonstranten auf die Wände der Stadt gesprüht und geschrieben, werden bald ebenso von der Flut verwaschen sein wie die Fußspuren im Sand. „Kommt man aus der Subway ans Tageslicht, so gehen die Leute wie vor zwei Jahren, es geht einfach so weiter: Warten bei Rot, Gehen bei Grün. Niemand weiß, was geschieht. Die Zeitungen tun nur so, als wissen sie’s von Tag zu Tag. WATERGATE, wenn das nicht wäre. Meine Freunde sind jünger, aber sie kennen schon ihre Ohnmacht. Einzig die Frauen hoffen noch auf Veränderung.“

Die Strandorte auf Long Island sind bis heute von der gleichen wohlgeordneten Trostlosigkeit, die Frisch in den siebziger Jahren beschrieben hat: „Rasen um hölzerne kleine Villen, Rasen und Bäume, alles gepflegt, einmal ein Schild: FOR RENT. Keine Zäune; alle sind wohlhabend in diesem Bezirk, alle haben Blumen, Wohlstand als Natur. Sogar der blaue Himmel erscheint wie gepflegt. Da und dort steht eine glänzende Limousine. Ein Rasensprenger gegen die grüne Langeweile. So friedlich, alles so blank und friedlich und wie auf einer Reklame. Man hört Vögel. Plötzlich ist es so öde, dass man sich über nichts unterhalten kann.“

In Amagansett, dem Ort, von dem Frisch hier spricht, wohnen vor allem die Schönen und Reichen: Unternehmer, Wall-Street-Broker, Broadwaystars. In den wenigen Geschäften kaufen diejenigen ein, die schon alles haben. Wie Brighton für die Londoner und Deauville oder Trouville für die Pariser, ist Amagansett einer jener Küstenorte, an denen Filmschauspieler und die Größen der New Yorker High Society gern ihren zweiten Wohnsitz nehmen. Im Mai, Max Frischs aktenkundig gemachtem Reisemonat, sind die Badegäste noch nicht angekommen.


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mare No. 10

No. 10Oktober / November 1998

Von Unda Hörner

Dr. Unda Hörner, Jahrgang 1961, ist Romanistin und hat u.a. Biographien über Louis Aragon und Gala Dalí geschrieben. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Alle Bilder sind in Montauk gedrehte Super-8-Aufnahmen von Max Frisch. Sie wurden von dem Regisseur Richard Dindo in seinem 1974 gedrehten Film Max Frisch, JOURNAL I–III verwendet

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Vita Dr. Unda Hörner, Jahrgang 1961, ist Romanistin und hat u.a. Biographien über Louis Aragon und Gala Dalí geschrieben. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Alle Bilder sind in Montauk gedrehte Super-8-Aufnahmen von Max Frisch. Sie wurden von dem Regisseur Richard Dindo in seinem 1974 gedrehten Film Max Frisch, JOURNAL I–III verwendet
Person Von Unda Hörner
Vita Dr. Unda Hörner, Jahrgang 1961, ist Romanistin und hat u.a. Biographien über Louis Aragon und Gala Dalí geschrieben. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Alle Bilder sind in Montauk gedrehte Super-8-Aufnahmen von Max Frisch. Sie wurden von dem Regisseur Richard Dindo in seinem 1974 gedrehten Film Max Frisch, JOURNAL I–III verwendet
Person Von Unda Hörner