Der Strand – Testlabor der Evolution

Das Reich der Mikroorganismen zwischen den Sandkörnern

Ein Sandkorn am Strand ist nahezu unzerstörbar. Es ist das endgültige Ergebnis der Arbeit von Wind und Wellen, der winzige, harte Kern, der nach endlosem Mahlen und Abschleifen übrigbleibt. Die Quarzkörner berühren sich jedoch im feuchten Sand nicht unmittelbar, denn jedes wird von einem Wasserhäutchen umhüllt, das infolge der Kapillarwirkung daran haftet. Und diese schützende Flüssigkeitsschicht verhindert selbst bei schwerer Brandung jede stärkere Reibung. In der Gezeitenzone ist dieser Porenraum zwischen den Sandkörnern das Reich winziger Lebewesen, die – wie die amerikanische Autorin Rachel Carson es nannte – in dem dünnen Wassermantel eines Sandkorns schwimmen wie Fische im Ozean.

Die mikroskopischen Organismen zeigen ihre Formenvielfalt und ihre phantastischen Anpassungserscheinungen nur dem, der sie durch spezielle Extraktionsmethoden aus ihrem labyrinthischen Lebensraum gewinnt. Unter dieser Fauna und Flora, die oft kleiner als ein Millimeter ist, finden sich einzellige Tiere und Pflanzen genauso wie mehrzellige Lebewesen, beispielsweise Fadenwürmer, Wassermilben, Schnecken und winzige Krebse. Es war der Kieler Meeresforscher und Gründer des dortigen Instituts für Meereskunde, Adolf Remane, der 1933 in seiner Monographie „Verteilung und Organisation der benthonischen (bodenlebenden) Mikrofauna der Kieler Bucht“ erstmals diese „Sandlückenfauna“, auch Mesopsammon (griechisch mesos = die Mitte; psammos = der Sand) genannt, ausführlich beschrieb. Remane verwendete in den zwanziger und dreißiger Jahren feinmaschige Netze, um seine Organismen des Strand-„Grundwassers“ zu fangen. Eine andere Methode, die Tiere aus dem Sand zu extrahieren, macht sich deren Temperaturempfindlichkeit zunutze: Die meisten Organismen können Kälte schlecht vertragen. So können die Lebewesen aus dem Sand vertrieben werden, indem auf die Oberfläche einer in ein Stechrohr gefüllten Sandprobe Seewassereis plaziert wird. Das salzhaltige, eiskalte Tauwasser sorgt dann dafür, dass die Tiere durch ein Gitternetz am Boden des Rohres flüchten und sich in einem Auffangbecher sammeln. Auch Umrühren mit Süßwasser führt zum Loslassen der Tiere von den Sandkörnern, und anschließendes Abgießen sorgt für ausreichende wissenschaftliche Beute. Im Labor müssen die meist durchsichtigen Tiere nur noch mit Bengalrot, einem speziellen Farbstoff, sichtbar gemacht werden.

Was sich durch die Extraktion im Sand der feuchten Strandsohle finden lässt, lädt zu einer phantastischen Entdeckungsreise in die Mikrowelt ein. Unterschiedlichste Organismengruppen haben den Weg in den Porenraum des Sandes am Strand gefunden und sich auf die Enge dieser Welt einstellen müssen. Neben Einzellern haben sich im Laufe der Evolution 22 aller 33 mariner Tierstämme mit ihren Kleinformen im Sandlückensystem eingenistet und dabei ihr typisches Aussehen und ihre Organisation teilweise bis zur Unkenntlichkeit verändert.

So gibt es schirmlose Vertreter aus der Gruppe der Hohltiere (Coelenterata), der überwiegend im Meer schwimmend vorkommenden Tiergruppe der Quallen, mit den schönen Namen Halammohydra und die Hydrozoenpolype Psammohydra. Diese zwölfarmigen, bewimperten Tiere nutzen ihre klebrigen Tentakel, um sich bei der Beutesuche von Sandkorn zu Sandkorn zu hangeln und durch das Lückensystem zu kriechen. Eine zoologische Sensation war 1936 die Entdeckung des Monobryozoons, eines beweglichen Moostierchens (Bryozoa). Diese galten vorher als sesshaft und als eine an Felsenküsten und auf Algen beheimatete Tiergruppe. Bewegungsfähige Einzeltiere, die nicht in einer größeren Kolonie zusammenleben, waren bis dahin völlig unbekannt.

Bizarre Formen haben auch die Bärtierchen (Tardigrada) ausgebildet: Mit ihren extrem langen Körperanhängen und Haftorganen an den acht Beinen sehen sie wie außerirdische Koalabärchen aus. Sie sind meist so klein, dass sie auf der Oberfläche einzelner Sandkörner umherspazieren können. Die Gruppe der Schnecken hat Vertreter ohne Schale hervorgebracht, und von den Seegurken, Verwandte der Seesterne und Seeigel, gibt es winzige Zwergformen mit nur ein bis zwei Millimeter Körperlänge.

Die Liste der absonderlichen und teils bizarr anmutenden Formen ließe sich noch weiter fortsetzen. Mehrere Tierstämme wurden sogar ausschließlich im Sand gefunden. Erst vor relativ kurzer Zeit, im Jahre 1983, wurde ein eigener neuer Tierstamm, die Loricifera (benannt nach den schützenden Lorica = Skelettplättchen), am Strand vor der bretonischen Küste entdeckt. Es handelt sich um kompliziert aufgebaute Tiere mit einem klappbaren, regenschirmartigen Tentakelkranz und einer Gesamtlänge von nur knapp einem zehntel Millimeter. Diese winzigen Tiere stehen vermutlich an der frühen Evolutionsbasis von Krebstieren und Würmern und zeigen, wie sehr der Sandlückenraum seit Millionen Jahren als Testlabor der Evolution fungierte.

Dem Forscher Remane fiel eine weitgehende Ähnlichkeit in morphologischen Merkmalen und in der Lebensweise zwischen den verschiedenen Tiergruppen auf. Er gründete dafür den heute in der Ökologie gängigen Begriff der „Lebensformmerkmale“. Die Anpassungen der Sandlückenfauna dienen seither in Lehrbüchern als das klassische Beispiel für Konvergenz im Tierreich: Nicht verwandte Organismen bilden ähnliche Strukturen aus, wie beispielsweise die bei Tintenfischen und Wirbeltieren auftretenden Linsenaugen.

So sind die meisten im Sand lebenden Organismen schlank und wurmförmig: Sie müssen sich im Porenraum vorwärtsschlängeln oder hindurchstemmen können. Beim sogenannten Stemmschlängeln dienen dabei die Quarzkörner als Widerlager für die Muskulatur und sorgen für die Vorwärtsbewegung. Einigen Organismen, wie den Wimperntierchen (Ciliaten), dienen Wimpern, beziehungsweise Cilien, zum Gleiten. Andere, wie die kunstvoll geformten, einzelligen Porentierchen (Foraminiferen), ziehen sich mit in allen Richtungen auswachsenden Scheinfüßchen, beweglichen Ausstülpungen des Zellkörpers, durch das Lückenlabyrinth.

Der Lebensraum der einzelnen Organismen ist denkbar eng. Das Porenvolumen eines Sandbodens liegt bei zirka einem Drittel des Gesamtvolumens. Anders gesagt: In einem 10-Liter-Eimer voll Sand befinden sich zirka 3 Liter Hohlraum. Zwischen diesen Körnern öffnen sich durchschnittlich Porengänge, die ungefähr ein Siebtel des Korndurchmessers messen. Zwischen den Lücken eines 0,2 Millimeter groben Sandes können somit Tiere mit einem Körperdurchmesser von 0,03 Millimeter leicht hindurchkriechen. Ist die Korngröße jedoch geringer, wie beispielsweise im Schlickwatt, bietet sich ein zum Leben geeigneter Porenhohlraum nurmehr für Bakterien.

Wegen ihrer geringen Körpergröße sind die Organismen einfacher aufgebaut als ihre größeren Verwandten. Viele Arten haben zum Beispiel die Augen zurückgebildet oder die Anzahl der Geschlechtsorgane verringert, da sie zur Brutpflege übergegangen sind, anstatt ihre Larven „unbeaufsichtigt“ ins freie Wasser zu entlassen. Wichtig für fast alle Bewohner des Sandlückensystems ist jedoch die Fähigkeit, sich vor der Erosion und dem Herausschwemmen aus dem Sand zu schützen. Bei der geringen Körpergröße dieser Meiofauna (griechisch meion = kleiner) kommt dabei jede höhere Strömungsgeschwindigkeit im Porenraum einem heftigen Sturm gleich. Wurmförmige Tiere rollen sich bei Störungen schnell zu Knäuel zusammen und werden dann mit den Sandkörnern transportiert. Viele Arten haben dagegen spezielle Haftorgane ausgebildet, um sich an den Sandkörnern festhalten zu können. Verbreitet sind saugnapfartige Extremitäten wie bei den Bärtierchen, deren Beinfortsätze an Froschfinger erinnern. Andere Bewohner besitzen Klebdrüsen: Klebstoffe und Lösungsmittel werden dabei von nahe beieinander liegenden Drüsen ausgeschieden. Damit können sich die Tiere blitzschnell nahezu unlösbar anheften, aber ebenso schnell die Verbindung wieder trennen.


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mare No. 8

No. 8Juni / Juli 1998

Von Onno Groß und Klaus Ensikat

Onno Groß, Jahrgang 1964, studierte Meeresbiologie in Hamburg und Tübingen. Auf mehreren Expeditionen erforschte er die Sandlückenfauna der Tiefsee. Heute lebt er in Hamburg.

Klaus Ensikat, Jahrgang 1937, studierte an der Fachschule für Angewandte Kunst in Berlin, wo er seit 1965 als Freier Künstler lebt. Mehr als ein Dutzend Kinderbücher, die er illustrierte, wurden als „Schönstes Buch des Jahres“ prämiert.

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Vita Onno Groß, Jahrgang 1964, studierte Meeresbiologie in Hamburg und Tübingen. Auf mehreren Expeditionen erforschte er die Sandlückenfauna der Tiefsee. Heute lebt er in Hamburg.

Klaus Ensikat, Jahrgang 1937, studierte an der Fachschule für Angewandte Kunst in Berlin, wo er seit 1965 als Freier Künstler lebt. Mehr als ein Dutzend Kinderbücher, die er illustrierte, wurden als „Schönstes Buch des Jahres“ prämiert.
Person Von Onno Groß und Klaus Ensikat
Vita Onno Groß, Jahrgang 1964, studierte Meeresbiologie in Hamburg und Tübingen. Auf mehreren Expeditionen erforschte er die Sandlückenfauna der Tiefsee. Heute lebt er in Hamburg.

Klaus Ensikat, Jahrgang 1937, studierte an der Fachschule für Angewandte Kunst in Berlin, wo er seit 1965 als Freier Künstler lebt. Mehr als ein Dutzend Kinderbücher, die er illustrierte, wurden als „Schönstes Buch des Jahres“ prämiert.
Person Von Onno Groß und Klaus Ensikat