Der Strand der klugen Köpfe

Ein Ferienhaus an der Bretagneküste wird zur Sommerfrische aller, die in Frankreich Rang und Namen in der Atomforschung haben

Kennen Sie die Bucht von Paimpol? Das ist ein hübsches Fleckchen Erde im Norden der Bretagne, Schauplatz eines erstaunlichen und doch kaum bekannten Abenteuers: das einer Gemeinschaft von Intellektuellen, Wissenschaftlern und Künstlern, die hier einige Sommer lang ihre Ambitionen, die Welt zu verändern, mit frischer Luft und Salzwasser nährten. Die Welt verändert haben sie tatsächlich, jedoch auf andere Art, als sie es sich vorgestellt hatten.

Diese Idealisten und ihre Familien besaßen Ferienhäuser auf der Pointe de l’Arcouest, einer Halbinsel aus Granit, bewachsen mit kleinen Wäldchen, die sich etwas nördlich von Paimpol hin zur Insel Bréhat erstreckt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbrachten die Frauen und Männer jedes Jahr zwei bis drei Monate dort, während derer sie sangen, tanzten, Boot fuhren, badeten und angelten. Und Mittel und Wege ersannen, die Welt zu verbessern, um danach ihre Kämpfe in Paris weiterzuführen. Unter ihnen Minister, Hochschulprofessoren, Maler, Schriftsteller und vier Nobelpreisträger: Marie Curie, Jean Perrin sowie Frédéric und Irène Joliot-Curie – die Crème de la Crème der französischen Atomwissenschaft. Allesamt politisch links engagiert, Humanisten, Pazifisten, Rationalisten, und voller Vertrauen in die Fähigkeit von Politik und Wissenschaft, für mehr soziale Gerechtigkeit zusammenzuarbeiten.

Zu jener Zeit ist es keine Seltenheit, dass die intellektuelle Elite gemeinsam in den Strandurlaub fährt. Und so machen sich 1901 der Neurophysiologe Louis Lapicque und der Historiker Charles Seignobos auf die Suche nach einem Quartier, in dem sie mit ihren Freunden und Bekannten die bretonischen Sommer genießen können. Und so entdecken sie die fast unberührte Halbinsel Arcouest, wo erst kürzlich die ersten Häuser erbaut worden sind. Dort formiert sich um die zwei Professoren eine hauptsächlich aus Sorbonne-Kollegen bestehende Gruppe, die die Tatsache eint, während der berühmten Dreyfus-Affäre, die das Frankreich jener Jahre so erschütterte, Partei für den jüdi- schen Hauptmann ergriffen zu haben.

Darüber hinaus sind sie alle Absolventen der Elitehochschule École Normale Supérieure, deren offener Geist und Progressismus ihnen erhalten geblieben sind. Dies also ist die gelehrte Linke der Sorbonne, die gekommen ist, ihre Ideen an der Küste der Bretagne zur Reife zu bringen.

Die Atomphysik hat ihren Auftritt im Jahr 1910, als Jean Perrin – der Wissenschaftler, der die Existenz von Molekülen und Atomen bewies – erstmals bei seinem Kollegen Seignobos auf der Pointe de l’Arcouest residiert. Er ist sogleich hingerissen von diesem Ort, seinen Farben, seiner frischen Luft, und lässt bald seine Freundin Marie Curie sowie deren beide Töchter Irène und Ève kommen. Irène wiederum wird ihren Verlobten Frédéric Joliot, einen weiteren viel versprechenden Physiker, mitbringen, und von nun an wird die Pointe de l’Arcouest ihren Spitznamen „atomare Halbinsel“ oder „Sorbonne Plage“ wirklich verdienen.

Die Gelehrten führen hier ein Leben im geschlossenen Zirkel und mischen sich, trotz ihres sozialen Engagements, wenig unter die lokale Bevölkerung. Stattdessen gehen sie spazieren, fahren Boot, angeln und schwimmen. Die Schriftstellerin Marguerite Borel, alias Camille Marbo, hat einige Seiten ihres Werkes dem Leben in diesem Clan gewidmet, dem sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem Mathematiker Émile Borel, angehörte. Darin beschreibt sie die Atmosphäre in der Gruppe, in der streng darauf geachtet wurde, keine Fachgespräche zu führen, in der Feste, Tanz und Gesang an der Tagesordnung waren und die gemeinsamen politischen und philosophischen Überzeugungen genügten, um die Clique aus Erwachsenen und Kindern zusammenzuschweißen.

Jene Ferien zwischen 1900 und 1939 waren Momente der Leichtigkeit in zuweilen unruhigen Zeiten – aber auch Momente der Reflexion und des Pläneschmiedens. Als auf die Euphorie der Belle Époque der Erste Weltkrieg folgt, stellt diese leidenschaftliche, akademische und dreyfusardische Linke ihre Forschung in den Dienst der Nation. Man wird sich der entscheidenden Rolle des technischen Fortschritts für die Verteidigung bewusst: Flugzeuge, Panzer, Artillerie, Kampfgas. Borel übernimmt die Leitung der militärischen Forschung, Perrin fungiert als sein Stellvertreter, Marguerite richtet ein Krankenhaus in der École Normale Supérieure ein, und Louis Lapicque dient als Militärarzt. Was Marie Curie angeht, so fährt sie die Front mit kleinen, mobilen Röntgengeräten ab (den ersten ihrer Art), assistiert von ihrer Tochter Irène.

Aus dem Französischen von Valerie Schneider.


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mare No. 126

No. 126Februar / März 2018

Von Édouard Launet

Édouard Launet, Jahrgang 1957, ist ein französischer Journalist, Autor und passionierter Segler. Bei einer Bootspartie ist er zufällig auf die Geschichte der arcouestiens gestoßen. Sein Buch Sorbonne Plage ist auf Französisch bei Éditions Stock erschienen.

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Vita Édouard Launet, Jahrgang 1957, ist ein französischer Journalist, Autor und passionierter Segler. Bei einer Bootspartie ist er zufällig auf die Geschichte der arcouestiens gestoßen. Sein Buch Sorbonne Plage ist auf Französisch bei Éditions Stock erschienen.
Person Von Édouard Launet
Vita Édouard Launet, Jahrgang 1957, ist ein französischer Journalist, Autor und passionierter Segler. Bei einer Bootspartie ist er zufällig auf die Geschichte der arcouestiens gestoßen. Sein Buch Sorbonne Plage ist auf Französisch bei Éditions Stock erschienen.
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