Der Spatz von der Atlantic Avenue

Eine 84-jährige Galicierin ist der gute Geist im „Montero’s“, Brooklyns ältester Seemannskneipe

Zart wie ein Vögelchen sitzt Pilar Montero, 84, auf dem Hocker, das Gefieder eine seidene, graue Jacke, dazu die dunkelblaue Hose mit scharfer Bügelfalte. Von den Piers tönt ein Schiffshorn, und die winzige alte Dame wippt hin und her auf dem Barhocker, wenn sie vom Weißwein nippt, Schlückchen für Schlückchen. Wie ein Spatz vor und zurück, ein Glas am Tag. Bis sie nach Hause geht, wie jeden Abend um sechs, sind es noch drei Stunden.

„Ja, früher“, sagt sie und kichert, „früher waren die Mädchen immer die Ersten. Morgens um acht, wenn ich aufsperrte, warteten sie in ihren hohen Schuhen an der Tür. Sie wussten, wann die Schiffe einliefen. Und dann hatten wir die Docker. Die brauchten auch einen Schnaps vor der Arbeit. Ja, frühmorgens war einiges los. Mädchen, Matrosen, Hafenarbeiter. Ich stand in der Küche, mein Mann hat ausgeschenkt. Es gab immer das Gleiche, morgens wie abends: T-Bone-Steaks oder Hamburger, das Steak 1,50 Dollar. Und sonst, wie heute: Bourbon und Bier.“

Ein weißes Hündchen döst auf einem Hocker, während die Sonne müde durchs Fenster kriecht. Dann klingelt ein Telefon. Linda, Pilars Schwiegertochter, läuft in die Kabine mit dem Münztelefon. „Schon wieder“, sagt sie, „der Mann von der Stromfirma.“ Sie legt einfach auf. Das Geschäft läuft nicht mehr so gut wie früher, die Rechnungen werden spät im Monat beglichen.

„Montero’s Bar and Grill“ ist die älteste Seemannskneipe in Brooklyn – und die letzte an der Atlantic Avenue, an deren Ende der Hafen dieses New Yorker Stadtteils liegt. Ein vergilbtes Foto vom Eröffnungsabend am Unabhängigkeitstag 1947 ziert die Wand. Dasselbe Fenster mit der Neonschrift, derselbe Spiegel, weniger fleckig, und Pilar sitzt sogar in derselben Ecke. Trotz der 8000 Dollar, die sie für das Gebäude hingelegt hatten, ein Vermögen damals, lächelt Pilar auf dem Bild der Zukunft entgegen. „Und hier“, sagt sie und zeigt auf ein Foto, „das ist mein Mann, José Ramón. Wie Errol Flynn sah er aus. Gott hab ihn selig.“ Um Pilars Hand hat José angehalten, als sie 18 war und er 28. „Ein Seemann?“, schlug Pilars Mutter die Hände über dem Kopf zusammen. „Was soll ich sonst tun?“, fragte José, als Pilar forderte, er solle die Seefahrerei aufgeben. „Lass dir was einfallen“, sagte sie – und José eröffnete die Bar, mit dem Segen von Pilars Eltern, die aus dem spanischen Galicien nach New York gekommen waren.

50 Jahre war der Laden rappelvoll. Seeleute begannen im „Montero’s“ ihren New Yorker Landausflug – und beendeten ihn auch dort. Wer zu viel getrunken hatte, durfte bei Pilar eines der Betten in den Apartments über der Bar mieten, „zum Ausschlafen“. Auch die Mädchen wussten das. „Es ging wild zu, Raufereien, ja, aber keine Revolver wie heute“, sagt Pilar.

Die Seemänner sind fort, seit Mitte der 1990er Jahre der Hafen drüben in New Jersey ausgebaut wurde. „Wir hatten Lackaffen hier, die versuchten, Drogen zu verkaufen“, sagt Linda. „Oder sie meinten, für eine gewisse Summe würden sie uns Schutz gewähren. Schutz! Pah, vor wem?“ Pepe Montero ist Pilars Sohn und Lindas Mann. Als José vor gut zehn Jahren starb, übernahm er die Bar. Er weiß, wen er anzurufen hat, wenn ein schmieriger Schläger den Paten spielen will. Jeden Nachmittag um vier übernimmt er die Schicht von seiner Frau. „Als wir heirateten, wollte er mich nicht in der Bar haben“, erinnert sich Linda. „,Keine Umgebung für ein Mädchen‘, hat er gesagt.“ Dann verschwindet sie wie jeden Abend in der Küche und setzt Minestrone für die Familie auf. Wenn gerade ein Gast da ist, darf er mitessen, umsonst. Hamburger und Steaks gibt es keine mehr.

Ein kurzhaariges Mädchen im Holzfällerhemd betritt die Bar. Der Hund hebt den Kopf und senkt ihn wieder. „Whiskey und Bier!“, bestellt das Mädchen. Es ist halb sechs, Linda stellt Pilar, ihrem Mann und dem Mädchen einen Teller Suppe hin. „Tunk das Brot hinein“, sagt sie zu niemand Bestimmtem. Pilar wirft einen Blick auf die Schuhe des Mädchens. Dann beginnt sie zu essen.


Minestrone à la Pilar Montero

Zutaten (für vier Personen)
1 Dtzd. Shrimps, 1 Dtzd. Jakobsmuscheln, 200 g Speck, 1 Bd. Suppengrün, 3 EL Öl, 4 Tomaten, 1 Zwiebel, 3 Knoblauchzehen, 250 g schwarze Bohnen, 350 g Penne, 1 Lauchstange, 1 Karotte, 1 Kohlrabi, 2 Kartoffeln, Muskat, Majoran, Thymian, Basilikum, Brot.

Zubereitung
Die geschnittenen Kartoffeln, Kohlrabi, Lauch und Suppengrün in Salzwasser zum Kochen bringen und 15 Minuten garen lassen. In der Zwischenzeit Speck, Zwiebel und Knoblauch in einer Pfanne in Öl kurz anbraten, gewürfelte Tomaten hinzufügen und ein paar Minuten ziehen lassen. Dann den Inhalt der Pfanne sowie Bohnen, Penne, Shrimps und Muscheln in die Suppe geben, Gewürze dazugeben und aufkochen lassen. Sobald die Nudeln al dente sind, die Minestrone mit Brot servieren.

Montero’s Bar & Grill
73 Atlantic Avenue, Brooklyn, NY 11201, Tel. 001-718-624-9799, täglich geöffnet von 12 bis 4 Uhr.

mare No. 80

No. 80Juni / Juli 2010

Von Michael Saur und Bernd Obermann

Autor Michael Saur, Jahrgang 1967, lebt seit 1994 in New York.

Bernd Obermann, Jahrgang 1954, war über 15 Jahre als Fotograf in New York. Jetzt lebt er in Düsseldorf arbeitet für Corbis und bei der SLP Stock Photo Agency.

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Vita Autor Michael Saur, Jahrgang 1967, lebt seit 1994 in New York.

Bernd Obermann, Jahrgang 1954, war über 15 Jahre als Fotograf in New York. Jetzt lebt er in Düsseldorf arbeitet für Corbis und bei der SLP Stock Photo Agency.
Person Von Michael Saur und Bernd Obermann
Vita Autor Michael Saur, Jahrgang 1967, lebt seit 1994 in New York.

Bernd Obermann, Jahrgang 1954, war über 15 Jahre als Fotograf in New York. Jetzt lebt er in Düsseldorf arbeitet für Corbis und bei der SLP Stock Photo Agency.
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