Der Schindler von Kopenhagen

Der Nazi-Diplomat Georg Ferdinand Duckwitz war und ist bis heute ein Held Dänemarks. Ihm verdanken die dänischen Juden das Wunder von Kopenhagen: die Rettung vor dem Holocaust

Sie hatten Order, nur zu klopfen, schon das war ungewöhnlich. Wehrmachtssoldaten und Gestapo-Männer rauschten auf ihren Lkws heran, sprangen ab, schwärmten in die Häuserflure und zerstörten nichts. Diese Nacht in Kopenhagen war lau, auch das war ungewöhnlich, es war der 1. Oktober. Einen Mond gab es nicht. Drei Stunden waren vorgesehen für den Abtransport der dänischen Juden. Im Hafen lag das bestellte Transportschiff „Vaterland" und wartete auf die angekündigte Menschenfracht. Es sollte durch den Øresund über die Ostsee nach Warnemünde fahren, von wo aus die Juden - wie üblich in Waggons gepfercht - ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht würden. Viel später als 21 Uhr kann es nicht gewesen sein, als Bests Leute zu klopfen begannen. Doch keine Tür ging auf. Kein Bogratchev oder Berkowitz war zu Hause. Die Leere der Judenwohnungen von Kopenhagen ist bis heute der größte Moment der jüngeren dänischen Geschichte, selbst für junge Dänen ist jene Nacht von damals noch heute ein Wunder. Das Wunder trägt einen Namen. Es ist der Name des „guten Deutschen".

Georg Ferdinand Duckwitz war und ist ein Held Dänemarks. Duckwitz war Nazi. Er stand im Dienst des Dritten Reiches. Duckwitz arbeitete an unbedeutender Position in einer untergeordneten Abteilung der deutschen Gesandtschaft in Kopenhagen. Er war befreundet mit Dr. Werner Best, SS-Obergruppenführer und Reichsbevollmächtigter in Dänemark, dem „Schlächter von Paris", der in Frankreich für den Abtransport von Zigtausenden Juden verantwortlich war und jetzt das besetzte Dänemark „judenrein" machen sollte. Duckwitz und Best luden ihre Familien gegenseitig nach Hause ein. Ohne Duckwitz kann man das Wunder der Nacht von Kopenhagen nicht verstehen. Ohne Best aber ist der Mythos Duckwitz unvollständig. Die Biografien von Best und Duckwitz sind durch die Legende von Kopenhagen so ineinander verwoben wie die von Mona Bogratchev und Isak Berkowitz. Mona und Isak sind dänische Juden, und sie verdanken Duckwitz ihr Leben. Sie alle treffen sich in der Nacht vom 1. auf den 2.Oktober 1943, als am Himmel kein Stern zu sehen war.

Das Wunder des 1. Oktober begann am 30. September, ein Donnerstag, es war mild. Viele Menschen waren es nicht, die zur Morgenmesse in die Synagoge kamen. Wie wenige es waren, ist nicht mehr zu rekonstruieren, die Messe begann um sieben. An diesem Morgen sprach Rabbi Marcus Melchior nicht nur über die Thora. Den Juden, die anwesend waren, kündigte er das Datum ihrer geplanten Deportation an. Dass ihre „Endlösung" bevorstand, flüsterten Gerüchte seit Ende August 1943. Das Geflüster war in den zurückliegenden vier Wochen immer lauter geworden. Je stärker es aber schwoll, desto gleichgültiger wurden die Eltern von Isak Berkowitz. Man musste ja weiterleben, und außerdem gab es den König. Jeden Morgen ritt König Christian demonstrativ durch Kopenhagen. Einen solidarischen Judenstern trug er nicht, das ist ein widerlegtes Märchen. Aber Christian soll den deutschen Besatzern gesagt haben: Wenn Sie die Juden von Dänemark jagen wollen, müssen Sie zuerst mich jagen! So ritt der König jeden Morgen durch seine Stadt und zeigte den Juden von Kopenhagen, dass er mit ihnen war, und die Juden von Kopenhagen lieben ihn dafür bis heute.

Kurz nach Ende der Morgenmesse stürmte ein Mann in das Atelier von Meia Berkowitz, wo Isak seine Lehre machte. Isak war 15, sein Vater kam aus dem polnischen Lodz. Er war Schneider und hatte sein Atelier dort, wo viele Juden ihre Schneider-, Schmuck- oder Schuhateliers hatten. Der Åboulevarden liegt im Stadtteil Nørrebro, im nördlichen Zentrum. Die Juden von Kopenhagen waren allseits respektiert und integriert, und bis heute gibt es von ihnen oder ihren Nachkommen nicht eine einzige Klage über antisemitische Äußerungen durch nicht jüdische Dänen. Als der Mann in das Atelier der Berkowitz kam, hatte er keinen Atem mehr. „Rennt fort, die Juden werden jetzt geholt!", rief er. Wer am Morgen die Synagoge besucht hatte, trug die Botschaft weiter, schnell und diskret, um Freunde und Verwandte zu warnen. Aber wie konnte man sicher sein, dass jetzt die Razzia bevorstand, die entscheidende, endgültige, so sehr befürchtete? Und woher wusste Rabbi Melchior das Datum?

Am 28. September hatte Best sich entschieden: Jom Kippur, der heiligste jüdische Fest- und Feiertag des Jahres, Tag der Sündenvergebung, Tag der Versöhnung, Tag des reuevollen Gebets, der Tag, an dem gläubige Juden fasten und jede Form der Arbeit verboten ist, an diesem Tag wären alle Juden zu Hause. Jom Kippur 1943 war ein Freitag, und als der Abend nahte, wurden in Kopenhagen alle Telefonverbindungen gekappt. 1800 deutsche Polizisten schwärmten aus in die Häuserflure und klopften an die Türen. Öffneten sich die Türen nicht, zogen die Judensammler weiter. Best, den alle fürchteten, wollte, dem Nazijargon folgend, „Volljuden"; Halbjuden oder mit Juden verheiratete Nichtjuden wollte er nicht. Das war ungewöhnlich. Deutsche sind gründlich, und Nazis waren Ideologen.

Es gibt bis heute keinen Hinweis darauf, dass Duckwitz sich öffentlich je antisemitisch geäußert hätte. Ob er es privat getan hat, ist nicht bekannt. Bekannt ist, dass Duckwitz versuchte, mildernd auf Best einzuwirken, seit dieser in Kopenhagen war. Duckwitz war ein nationalkonservativer Traditionalist. Er war Nationalist, sagen jene dänischen Historiker, die als Einzige Zugang zu Duckwitz' Tagebüchern, Akten und Aufzeichnungen im dänischen Reichsarchiv und den Aussagen seiner Frau hatten. Die Historiker sagen: Duckwitz war seit 1932 NSDAP-Mitglied, aber er war kein Antisemit, kein Ideologe und kein Rassenhasser. Hass war ihm fremd. Anfangs hatte er für Hitler geschwärmt, sich nach dem Röhm-Putsch 1934 aber entsetzt vom hassgetriebenen Führer abgewandt. Duckwitz arbeitete loyal für die Ämter des Dritten Reiches, lehnte die Brutalität des Nationalsozialismus aber ab. Die Historiker sagen: Der Hanseat Duckwitz hing an Dänemark und den Dänen. Deswegen versuchte dieser „treue Freund Dänemarks", alle Dänen zu schützen, Juden und Nichtjuden. Duckwitz wusste, dass Best brutal und skrupellos war. Spielte Duckwitz seine Rolle in der Besatzungsbürokratie derart überzeugend, dass er, ein Hitler-Gegner, unter dem „Schlächter von Paris" im besetzten Kopenhagen überleben konnte und dem Auswärtigen Amt, der SS und Gestapo nicht suspekt war?


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mare No. 79

No. 79April / Mai 2010

Von Christian Schüle und Joachim Ladefoged

Der Hamburger Autor Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat während seines Besuchs im Haus Berkowitz bei jedem Satz die große Dankbarkeit gespürt, die Duckwitz noch heute entgegengebracht wird.

Joachim Ladefoged, Jahrgang 1970, lebt in Ry, Dänemark, und fotografiert unter anderem für The New York Times Magazine, The New Yorker, National Geographic, Newsweek und Time. Ladefoged hat eine dänische Mutter und einen deutschen Vater.

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Vita Der Hamburger Autor Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat während seines Besuchs im Haus Berkowitz bei jedem Satz die große Dankbarkeit gespürt, die Duckwitz noch heute entgegengebracht wird.

Joachim Ladefoged, Jahrgang 1970, lebt in Ry, Dänemark, und fotografiert unter anderem für The New York Times Magazine, The New Yorker, National Geographic, Newsweek und Time. Ladefoged hat eine dänische Mutter und einen deutschen Vater.
Person Von Christian Schüle und Joachim Ladefoged
Vita Der Hamburger Autor Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat während seines Besuchs im Haus Berkowitz bei jedem Satz die große Dankbarkeit gespürt, die Duckwitz noch heute entgegengebracht wird.

Joachim Ladefoged, Jahrgang 1970, lebt in Ry, Dänemark, und fotografiert unter anderem für The New York Times Magazine, The New Yorker, National Geographic, Newsweek und Time. Ladefoged hat eine dänische Mutter und einen deutschen Vater.
Person Von Christian Schüle und Joachim Ladefoged