Der Salzwald

Das Delta des Ganges und des Brahmaputra im Golf von Bengalen bildet eines der außergewöhnlichsten Biotope der Welt: die Mangroven der Sundarbans

Beim Anflug aus dem Weltall auf die Erde – zur Not tut es auch der Webdienst Google Earth – springen einem die Sundarbans schon von Weitem in die Augen: als riesige, tiefgrüne Fläche im Mündungsdelta von Ganges und Brahmaputra, durchschlungen von Flussläufen und Gezeitenkanälen, die das grüne Gewebe wie Blutgefäße mit fein verästelten Adern versorgen. Ein Archipel aus Sand, dessen unzählige Inseln seit Jahrtausenden in stetem Werden und Vergehen begriffen und doch ein Ort prallen Lebens sind.

„Hier gibt es keine trennenden Grenzen zwischen Süßwasser und Salz, Fluss und Meer oder selbst Land und Wasser“, beschreibt der indische Autor Amitav Ghosh die Sundarbans. „Die Gezeiten reichen mehr als 200 Meilen ins Land, und zweimal am Tag verschwinden Tausende von Hektar Wald im Wasser, nur um Stunden später wieder aufzutauchen.“ Sundarban bedeutet auf Bengalisch „schöner Wald“. Mit mehr als 10 000 Quadratkilometern, die sich auf Bangladesch und Indien verteilen, sind die Sundarbans der größte Mangrovenwald der Erde.

Biologen verstehen unter Mangroven die waldbewachsenen Wattenmeere der Tropen. Sie zählen zu den produktivsten, aber auch extremsten Ökosystemen der Erde. Denn ihre Bewohner müssen sich im Rhythmus der Gezeiten mit radikal wechselnden Bedingungen arrangieren.

Der Begriff Mangrove bezeichnet aber auch die Pflanzen, die diesen Lebensraum erst erschaffen: weltweit rund 70 Baum-, Strauch-, Palmen- und Farnarten. Die meisten großen Mangrovengebiete liegen im Brackwasser großer Flussmündungen. „Die besonders salztoleranten Arten gedeihen ohne Probleme auch in reinem Meerwasser“, sagt Ulrich Saint-Paul, Mangrovenspezialist am Leibniz-Zentrum für Marine Tropenökologie in Bremen. „Nur die Wassertemperatur darf nicht dauerhaft unter 20 Grad sinken – deshalb gibt es auch keine Mangrove in gemäßigten Breiten oder im Einflussbereich kalter Meeresströmungen.“

Vor allem die Wurzeln weisen einen Baum auf den ersten Blick als Mangrove aus: Die meisten Arten suchen mithilfe ausladender Stelz- und Luftwurzeln Halt im weichen Untergrund. Viele bilden zudem Atemwurzeln, die wie Schnorchel aus dem Schlick hervorragen und über ein spezielles Leitungsgewebe Frischluft an die tiefer im sauerstoffarmen Untergrund gelegenen Teile der Pflanze leiten. Das feine Gewirr der Mangrovenwurzeln fängt Sedimente ein und bildet so nach und nach erst festen Untergrund, auf dem die Mangroven selbst und schließlich auch andere, weniger spezialisierte Pflanzen wachsen können.

In den Sundarbans gedeihen im Schatten des Sundari-Baums und rund 30 anderer echter Mangrovenarten mehr als 300 weitere Pflanzenspezies. Ihre Verbreitung wird vor allem von ihrer Toleranz gegenüber Salz bestimmt. Mit wachsendem Abstand zum Meer geht die Mangrove langsam in einen Süßwassersumpfwald über. In den unwegsamen Wäldern leben Hunderte Tierarten wie Rhesusaffen, Sumpfluchse, Fischkatzen, Schuppentiere, die hübsch getüpfelten Axishirsche sowie Hunderte Vogelarten. Im Wasser tummeln sich Garnelen, Krabben und Fische, darunter viele Hochseearten, denen die Mangrove als Kinderstube dient. Ihnen stellen Otter, Krokodile und Gangesdelfine nach. All diese Tiere leben letztlich von den Bäumen, deren abfallende und verrottende Blätter zusammen mit den Nährstoffen des Flusses die Basis der Nahrungspyramide bilden.

An deren Spitze steht als uneingeschränkter Herrscher des Waldes der Bengalische Königstiger. Rund 500 dieser Raubkatzen bevölkern die Sundarbans. Die königliche Katze löst nicht nur bei den übrigen Tieren Angst und Schrecken aus – auch der Mensch muss sie fürchten. Etwa 50 Opfer fordert der Tiger Jahr für Jahr. Meist trifft es Männer, die sich tief in den Sumpf vorgewagt hatten.


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mare No. 106

No. 106Oktober / November 2014

Von Georg Rüschemeyer und Xavier Desmier

Georg Rüschemeyer, geboren 1970, Autor im englischen York, war als Teenager passionierter Aquarianer. Ein Traum blieb ihm verwehrt: ein Mangrovenaquarium mit künstlichem Gezeitenwechsel. Xavier Desmier, Jahrgang 1960, gewann mit seinen Sundarbansfotos den Prix Photo par Nature 2011.

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Vita Georg Rüschemeyer, geboren 1970, Autor im englischen York, war als Teenager passionierter Aquarianer. Ein Traum blieb ihm verwehrt: ein Mangrovenaquarium mit künstlichem Gezeitenwechsel. Xavier Desmier, Jahrgang 1960, gewann mit seinen Sundarbansfotos den Prix Photo par Nature 2011.
Person Von Georg Rüschemeyer und Xavier Desmier
Vita Georg Rüschemeyer, geboren 1970, Autor im englischen York, war als Teenager passionierter Aquarianer. Ein Traum blieb ihm verwehrt: ein Mangrovenaquarium mit künstlichem Gezeitenwechsel. Xavier Desmier, Jahrgang 1960, gewann mit seinen Sundarbansfotos den Prix Photo par Nature 2011.
Person Von Georg Rüschemeyer und Xavier Desmier