Der rügensche Kreidekreis

Die schneeweißen Felsen von Rügen sind Erbe eines Jahrmillionen alten Meers. Ihre Kreide schaffte es bis in die Hochkultur

Die Essenz der Insel Rügen ist nicht Wasser, H2O. Es ist nicht O3, der blaue Himmel überm Meer, auch nicht der feine Sand, SiO2. Die Seele Rügens ist weiß und besteht aus Kalziumkarbonat, CaCO3.

Rügen steht auf Kreide. Beinahe überall findet sich der mehlige Kalk, das hwiting melu der Angelsachsen, ihr Weißmachpulver. Man muss nur graben, knapp unterm Humus, unterm Sand, unter den Wiesen und Waldböden, unterm Asphalt. Mal mehr – im Norden und Nordosten der Insel –, mal weniger – im Westen und im Süden. Aus schroffen Ufern brechen weiße Brocken, in Lehmkliffs leuchten weiße Schollen; Maulwürfe werfen weißen Sand zu Hügeln, Bäche fließen milchig-trüb. Landmarken der Fischer heißen „Dat witte Hemd“, Kreideflecken im Steilufer.

Nirgendwo jedoch zeigt sich Rügens Kreide eindrucksvoller als an der Steilküste der Halbinsel Jasmund. Von Sassnitz bis ins Fischerdorf Lohme erheben sich die Kliffs, 15 Kilometer lang und durchschnittlich 40 Meter über Tage. Darunter sind es noch einmal bis zu 200 Meter.

Jeder Abschnitt dieses Kleingebirges erzählt seine eigene Geschichte. Das Wissower Ufer, hier standen die berühmten Klinken, vielfach gemalt, besungen und – verschwunden; das Kieler Ufer mit dem einzigen Wasserfall des Lands, er stürzt aus vier Meter Höhe auf den Blockstrand; der „Hengst“, Landmarke der Fischer, längst fehlen ihm Ohren und Maul; natürlich die Piratenschlucht, in der noch immer die Schätze des baltischen Korsaren Störtebeker liegen. Eine Wand aus massivem Licht, Deutschlands Skelettküste: Die Schalen, Panzer, Gehäuse kleiner und kleinster Tierchen und Pflanzen aus einem Meer vor unserer Zeit haben sie errichtet.

Vor knapp 70 Millionen Jahren sanken sie, reinster Kalk, auf den Grund und häuften sich zur mächtigen Scholle. Ein Legostein, gefüllt mit Rügener Kreide, wäre Container für rund 800 Millionen Mikrofossilien. „Jedes Stück Kreide ist ein wahres Museum winziger Versteinerungen“, schrieb der Paläontologe Karl Alfred von Zittel im 19. Jahrhundert. „Eine mit Kreide getünchte Wand würde, in starker Vergrößerung betrachtet, ein Bild darbieten, das sich an Schönheit und Mannigfaltigkeit dem kunstvollsten Mosaik zur Seite stellen könnte.“ Plattentektonik schob die trockengefallene See aus heute südeuropäischen Gefilden bis in unsere Gegend. Die Gletscher der letzten Eiszeit, die vor 12 000 Jahren endete, rissen auf ihrem Weg von Skandinavien erst ganze Erdzeitalter mit sich – Findlinge des Kambriums, Geschiebe des Silurs, Steinblöcke des Devons –, bevor das Gewicht der Äonen die Kreide aus dem Untergrund drückte, sie zerbrach, knickte, faltete, nein, wie ein Blatt Papier zerknüllte. Unerhörte Gewalten: Feuerstein, einst aus Kieselsäure gehärtet und in den Kreideschlamm gesunken, zieht sich als graue Bänder waagerecht durch die Kliffs. Manchmal aber stehen sie senkrecht im Fels wie ein Turm. Der Königsstuhl, ein einstmals liegender Block, war erst durch jene Kräfte zum heutigen Felsenkoloss aufgerichtet worden.

Der Königsstuhl ragt buchstäblich heraus, aus dem Küstenwald und überhaupt. Der kalkbleiche Obelisk ist das Wahrzeichen der Insel. Der schwedische Monarch Karl XII. soll im Großen Nordischen Krieg (1700 bis 1721) vom Königsstuhl aus eine Schlacht geführt haben. Eine archaische Legende sieht Jünglinge ihn erklettern; wer es nach oben schaffte, wurde Rügens Herrscher. Vielleicht ist es jener, der unter dem schmalen Übergang vom Land zum Fels liegt. Ein bronzezeitlicher Häuptling, so heißt es, das Grab bis heute ungeöffnet. Millionen Besucher sind auf ihm herumgetrampelt, bald ist das vorbei. Bald wird eine Plattform darüber führen, über dem bröckelnden Plateau der Klippe.

Der Königsstuhl ist das 118 Meter hohe Sinnbild eines Rügenmythos, wie er Anfang des 18. Jahrhunderts in teutonischen Seelen erblühte. Eingehämmert von den deutschnationalen Versen des Rüganers Ernst Moritz Arndt, mystisch verklärt von Caspar David Friedrichs Gemälden, dunkel besungen vom dichtenden Botaniker Adelbert von Chamisso: „Ich trank in schnellen Zügen / Das Leben und den Tod / Beim Königsstuhl auf Rügen / Am Strand im Morgenrot.“

Deutschlands höchster Thron, royaler Besuch blieb nicht aus. Der Wald entrollte seinen Teppich aus Buschwindröschen und Maiglöckchen, darum herum die Ehrengarde der bis zu 35 Meter hohen Buchen. Prinzessin Victoria, Gattin des nachmaligen Kaisers Friedrich III., vergoss Tränen der Rührung angesichts der Schönheit der Steilküste. Zum Dank heißt der grandiose Felsen gegenüber dem Königsstuhl Victoria-Sicht. Auch ihre Schwiegertochter mühte sich über Baumwurzeln und hügelan. Mit ihren Söhnen verbrachte sie einige Sommer im nahen Sassnitz. Ihr Ältester besah sich als Kaiser Wilhelm II. die Kreide gern von See aus, dann ließ er sie beschießen. Trotzdem gab es eine Zeit lang auch eine Kaiser-Wilhelm-Sicht, der Name wurde zu DDR-Zeiten getilgt. Die Victoria-Sicht jedoch durfte bleiben – die Kaiserin las Marx!
Möglicherweise aber war es der Pfarrer Kosegarten, im Norden Rügens, der den Namen Königsstuhl erfand. Seine „Ode über die Stubbenkammer“ – Stubbenkammer heißt die Gegend um den Felsen – adelte den Kreidekegel zum Symbol eines hoffentlich bald geeinten Volks: „Sey mir gegrüßt im Sonnenstrahl, / Gegrüßt du kühn erklommener Fels, / Gegrüßt, o Königsstuhl / Du meines deutschen Vaterlandes / erhabner Markstein!“ Der poetisierende Pastor erschauderte regelmäßig in hehren Jamben und Trochäen vor den rügenschen Urgewalten. Dicht am Ufer hielt er seine Predigten, vor dem windumtosten Kreidesockel Kap Arkona, Rügens Nordkap. Während er von Gott und, lieber noch, von den antiken Göttern sprach, schielten die Fischer um ihn herum nach dem Meer. Zeigte sich ein Schatten, sprangen sie auf. „De Hiering kümmt!“, und weg waren sie. Zurück blieb der lyrische Träumer im Talar. Seine Ergüsse schickte er an Schiller und Goethe, seine irdischen Götter. Die indes, genervt von stotterndem Pathos und handwerklichem Durchschnitt, wollten den nordischen Orpheus partout nicht in ihren Olymp heben.


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mare No. 147

mare No. 147August / September 2021

Von Maik Brandenburg und Robert Voit

Maik Brandenburg, 1962 in Sassnitz geboren, ist Rüganer. Also kein Rügener, das sind die Zugezogenen. Mehr dazu in seinem Buch „Rügen neu entdecken“, erschienen bei Delius Klasing.

Der in München lebende Fotograf Robert Voit, Jahrgang 1969, ist ein Magier des Lichts. Drei Wochen tauchte er für mare in die Stille und Menschenleere einer Insel im Lockdown ein und erwanderte sich Momente und Motive am Meer.

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Vita Maik Brandenburg, 1962 in Sassnitz geboren, ist Rüganer. Also kein Rügener, das sind die Zugezogenen. Mehr dazu in seinem Buch „Rügen neu entdecken“, erschienen bei Delius Klasing.

Der in München lebende Fotograf Robert Voit, Jahrgang 1969, ist ein Magier des Lichts. Drei Wochen tauchte er für mare in die Stille und Menschenleere einer Insel im Lockdown ein und erwanderte sich Momente und Motive am Meer.
Person Von Maik Brandenburg und Robert Voit
Vita Maik Brandenburg, 1962 in Sassnitz geboren, ist Rüganer. Also kein Rügener, das sind die Zugezogenen. Mehr dazu in seinem Buch „Rügen neu entdecken“, erschienen bei Delius Klasing.

Der in München lebende Fotograf Robert Voit, Jahrgang 1969, ist ein Magier des Lichts. Drei Wochen tauchte er für mare in die Stille und Menschenleere einer Insel im Lockdown ein und erwanderte sich Momente und Motive am Meer.
Person Von Maik Brandenburg und Robert Voit