Der Retter der Gesellschaft

Karl-Friedrich Brückner ist Vormann auf dem Seenot-Rettungskreuzer „Alfried Krupp". Er ist kompetent vom Fenderknoten bis zur Herzmassage

„Die Stimme des Boots“ nennt Karl-Friedrich Brückner den bullernden Beat des Seenot-Rettungskreuzers. Die 3500 PS der Dieselmaschine beschleunigen sein Schiff auf maximal 24 Knoten, wenn es gilt, verletzte Matrosen von Frachtern zu bergen oder abtreibende Surfer einzufangen. Bei Sturm muss Brückner trotz aller Eile das Tempo drosseln. Zu hart fällt der Kreuzer sonst in die Wellentäler. Wenn die Elemente über dem Vormann der „Alfried Krupp“ zusammenschlagen, dann manövriert er behutsam.

Der Klang der Maschinen begleitet ihn nicht nur im Einsatz. Die Brückners wohnen in Borkum, 300 Schritt vom Fahrwasser entfernt, und trägt der Wind des Nachts die Stimme des Schiffs über die Insel, wird der Vormann wach. Sorgen macht er sich nicht. Sagt er wenigstens. Vor vier Jahren überschlug sich der Rettungskreuzer auf dem Weg zu einem havarierten Trawler in schweren Grundseen. Zwei Männer starben. Vormann Brückner hatte dienstfrei in jener Nacht. „Traurig“ nennt er solch einen Unfall, aber er stört nicht die Ordnung der Dinge. Ingenieure und Seeleute können nur ihr Bestes geben; das letzte Wort haben sie nicht.

Brückner hat die vorschriftsmäßige kräftige Statur eines Seemanns, aber er ist kein tollkühner Haudegen. Er ist bereit, durch die Hölle zu fahren, würde aber Passagiere anweisen, sich gut festzuhalten. Wenn er den Steuerstand des Kreuzers verlässt, gewinnt er sogar noch an Souveränität: Was könnte ihm an Land zustoßen, das er auf See nicht längst bewältigt hätte? Er kann sich an alten Geschichten erwärmen, aber die Gestik bleibt sparsam, wenn er ins Erzählen kommt. Er ist ein alter Seebär, das sieht man gleich. Aber er spinnt kein Garn. Anders als den Käpitänen Iglo und Blaubär kann man ihm glauben.

Karl-Friedrich Brückner ging zur See, als er 15 war. Was den in der Pfalz geborenen Jungen dazu gebracht hat, weiß der 55jährige Seemann nicht mehr. Sein erstes Schiff war das Küstenmotorschiff „Jan Suhr“, das Gemüse aus dem Alten Land bei Hamburg verfrachtete. Auf der regulären Deckslaufbahn wurde er Matrose, Steuermann und Offizier und trampte auf allen Schifffahrtswegen um den Globus.

„Es ist ein Glück“, sagt Brückner, „diese letzte Zeit echter Seefahrt noch mitgemacht zu haben.“ Vor allem meint er die langen Liegezeiten, die es heute nicht mehr gibt: Weihnachten in Schweden, umsorgt von der Tochter des Seemanns-Pfarrers; grüner Schnaps im Hafen von Rangun, der einen Mann für sechs Tage lähmt; Krokodiljagd in Australien; endlich eine junge Frau auf Borkum, eine Insulanerin, die zwar keinen Seemann, aber Karl-Friedrich Brückner haben wollte.

„Das ist das Beste“, sagt er, „die richtige Frau fürs Leben zu finden.“ Deshalb blieb er an Land und jobbte bei einem Hamburger Schiffsausrüster. Es war nicht zum Aushalten. „Die Vorhölle“ nennt er das Stadtleben, dem er durch einen Zufall entkam: Auf Borkum fiel ein Seenotretter aus, Brückner half aus und blieb. Vier Jahre später wurde er Vormann des Kreuzers und Leiter der Seenot-Rettungsstation.

Dass die Nordsee ein beschissenes Revier ist, will Brückner nicht gesagt haben. Aber Wind und Wellen gehen auf die Bandscheiben, und auch die Schiffe leiden. Dazu die Tide und ihre gefährlichen Ströme, das Borkumriff, die Emsmündung, das Durcheinander von Frachtern, Fischern, Seglern und Marine – eine Herausforderung für den Seemann? „Kann man wohl sagen“, brummt Brückner.

Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS), intern „die Gesellschaft“ genannt, finanziert sich aus Spenden und betreibt 52 Stationen von Borkum bis Ueckermünde. Sie wurde 1865 von Männern gegründet, die sich mit Ruderbooten in die Brandung stürzten, um strandenden Schiffen zu Hilfe zu eilen. Mehr als 60000 Menschen hat die DGzRS seither aus Seenot geborgen.

„Die Gesellschaft ist das Maß der Dinge“, findet Brückner. Mit seinen niederländischen Kollegen berät er sich per Funk, bei Bedarf verschlüsselt. Was immer sie verabreden – niemand braucht es zu wissen. Wenn es um Menschenleben geht, sind sie die höchste Instanz im Revier. Natürlich sind vor der Gesellschaft und ihren Rettern alle Menschen gleich. Zwischen dem Fischer, der auf See seinen Lebensunterhalt verdient, und dem Katamaransegler, der nach dem Autoatlas navigiert, wird kein Unterschied gemacht.

Brückner nennt die Hauptverwaltung der DGzRS in Bremen „Mutterhaus“. Als Familie stellt sich die Gesellschaft beispielhaft dar, wenn die Witwen verunglückter Rettungsleute neue Kreuzer auf die Namen ihrer Männer taufen. Eher selten benennt die Gesellschaft Schiffe nach verdienten Förderern, zum Beispiel der Alfried-Krupp-Stiftung. Kein Kommentar dazu vom Vormann. Brückner findet sein Schiff als Ganzes „schön“.

Wie alle Kreuzer hat die „Alfried Krupp“ einen weißen, gedrungenen Rumpf, ein grünes Deck und ein signal-rotes Band über dem Aufbau. Ein schwimmender Motor, der Überlebenstechnik und Kojen transportiert. Für Brückner ist die „Alfried Krupp“ ein zweiter Wohnsitz: Zwei Wochen lebt er auf ihm Tag und Nacht, dann hat er zwei Wochen frei.

Von der achtköpfigen Stammbesatzung sind jeweils vier Mann an Bord, die aber nie komplett ausgewechselt werden: Mindestens ein Mann bleibt als „Schiffsgedächtnis“ an Bord und arbeitet die Ablösung ein, denn die Wetter- und Verkehrslage im Revier verlangt kontinuierliche Überwachung. Außerdem beugt rotierendes Miteinander dem Kabinenkoller vor. Brückner ist bei den Kameraden als Koch beliebt. Er hat sich im Pazifik von einem chinesischen Smutje ein paar interessante Rezepte abgeguckt.

Will der Vormann während seiner Freizeit den eigenen Kreuzer besuchen, und das kommt öfters vor, bittet er die amtierende Crew telefonisch um eine Einladung zu Tee und Klönschnack. Unangemeldetes Auftauchen des Vorgesetzten röche nach Kontrolle, und das verstieße gegen den Ehrenkodex der Gesellschafts-Retter.

Brückner fährt ein Schiff, das er ganz selbstverständlich „mein Schiff“ nennt. Er ist kompetent vom Fenderknoten bis zur Herzmassage. Um das Spektakuläre und Existenzielle, das seiner Rolle als Retter anhängt, macht er keine großen Worte. Er versteht sich als „Dienstleister“, der immer auf Abruf ist und froh, wenn er nicht eingreifen braucht. Er bekommt eine ordentliche Heuer, das versteht sich, aber er definiert seinen Job nicht über den Lebensunterhalt. Es gibt die See, also gibt es Seeleute. Es gibt Seenot, also muss es Seenotretter geben. Ganz einfach.

Seit über 40 Jahren lebt Karl-Friedrich Brückner den Traum vom Seemann. Wie lange noch? Diese Frage, sagt er behutsam, habe er sich auch schon vorgelegt, dann aber verdrängt. Da zeigt der Retter Nerven: beim Gedanken an das Leben an Land.

mare No. 16

No. 16Oktober / November 1999

Von Kai Metzger und Axel Martens

Kai Metzger, geboren 1960, ist Schriftsteller. Neben seiner literarischen Arbeit schreibt er Essays und Reportagen für den Rundfunk und Zeitschriften, darunter regelmäßig für die Yacht. Er lebt in Düsselorf.

Axel Martens, geboren 1968 in Varel an der Nordseeküste, arbeitet für Magazine und Werbeagenturen im In- und Ausland bevorzugt im Portrait- und Reisebereich. Für mare war er unter anderem auf der Isle of Wight bei dem Royal Yacht Squadron, dem königlichen Yachtclub, in dem vorher kein Journalist je Eintritt hatte und mit Käptn Krüss bei den Pinguinen in der Antarktis.

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Vita Kai Metzger, geboren 1960, ist Schriftsteller. Neben seiner literarischen Arbeit schreibt er Essays und Reportagen für den Rundfunk und Zeitschriften, darunter regelmäßig für die Yacht. Er lebt in Düsselorf.

Axel Martens, geboren 1968 in Varel an der Nordseeküste, arbeitet für Magazine und Werbeagenturen im In- und Ausland bevorzugt im Portrait- und Reisebereich. Für mare war er unter anderem auf der Isle of Wight bei dem Royal Yacht Squadron, dem königlichen Yachtclub, in dem vorher kein Journalist je Eintritt hatte und mit Käptn Krüss bei den Pinguinen in der Antarktis.
Person Von Kai Metzger und Axel Martens
Vita Kai Metzger, geboren 1960, ist Schriftsteller. Neben seiner literarischen Arbeit schreibt er Essays und Reportagen für den Rundfunk und Zeitschriften, darunter regelmäßig für die Yacht. Er lebt in Düsselorf.

Axel Martens, geboren 1968 in Varel an der Nordseeküste, arbeitet für Magazine und Werbeagenturen im In- und Ausland bevorzugt im Portrait- und Reisebereich. Für mare war er unter anderem auf der Isle of Wight bei dem Royal Yacht Squadron, dem königlichen Yachtclub, in dem vorher kein Journalist je Eintritt hatte und mit Käptn Krüss bei den Pinguinen in der Antarktis.
Person Von Kai Metzger und Axel Martens